Wer nicht hören will...

Sie stand auf Höhe der Eingangstüren der Häuser rechts und links von sich; vor ihr der kleine Dorfplatz, hinter sich die Gasse, die zur hiesigen Spelunke führte.


Es war ruhig. Kaum eine Menschenseele war zu sehen oder hören, denn es war bereits spät am Abend und die Taverne war weit genug entfernt, das nur leises Stimmengewirr an ihre Ohren drang. Der Mond schien heute nicht mit ganzer Kraft und vermochte für das durchschnittliche Augenpaar nicht viel mehr als Umrisse sichtbar zu machen – Umrisse, Schatten, grau in grau. Sie aber mochte das Zwielicht, mochte den Abend und die Nacht: Im Gegensatz zum Tage wurden ihre Augen zu diesen Zeiten nicht überreizt, sodass sie entspannt und gut sehen konnte. So verharrte sie still an ihrem Platz und betrachtete das in blasses Mondlicht getauchte
Bild, das sich ihr bot.


Der Klang von schweren Schritten die sich ihr gemächlich von hinten näherten rissen sie aus ihrer kleinen Träumerei: Der nächste Gast suchte seinen Weg nach Hause. Die Schwere der Schritte, die Art des Ganges ließen sie auf einen großen und vermutlich schweren, nur angetrunkenen Gast schließen. Gleich würde er auf gleicher Höhe sein, und sie bereitete gedanklich bereits ein „einen angenehmen Abend“ vor, da stoppten die Schritte nur ein kleines Stück weit hinter ihr. In dem
Moment, als sie den Kopf umwandte um über die Schulter zu sehen fühlte sie große, schwere Hände an ihrem Körper: Die linke des Mannes schlang sich um ihre Taille und zog sie einen Schritt nach hinten und somit ihm entgegen, während sich die rechte an ihre Brust legte.


„Na Süße, hast du auf mich gewartet?“ vernahm sie die dunkle Stimme, während sich sein Kopf neben den ihren schob. Sie ergriff mit ihren Händen die seinen, um sie von sich zu schieben, doch das sorgte nur dafür, dass sich sein Griff verstärkte. „Lasst mich los, ihr tut mir weh.“ sagte sie bemüht laut und bestimmt, während sich leise Panik in ihr ausbreitete. Das Schnaufen, das er zur Antwort gab, roch nach Bier und Fäulnis, und angewidert drehte sie den Kopf zur Seite. „Lasst mich los.“
wiederholte sie, während ihre Hände von den seinen abließen und sich stattdessen beide um das an ihrem Bauch befindliche Handgelenk legten. Seine rechte knetete derweil ihre Brust und er gab ein erneutes, erregtes Schnaufen von sich.


Sie atmete durch, rief sich noch einmal ins Gedächtnis, was sie gelernt hatte... dann drehte sie sein Handgelenk in einer schnellen und festen Bewegung von sich weg. Der Mann gab einen überraschten und schmerzerfüllten Laut von sich, während sich sein Körper wie von selbst von ihr wegdrehte und leicht krümmte – der Griff seiner rechten Hand löste sich und er hatte sich halb hinter sie gewandt: seitlich stand er nun in ihrem Rücken, den linken Arm auf Spannung gehalten. Ohne ihm Zeit zum Nachdenken zu lassen drehte sie sich ein Stück mit, löste die linke und winkelte den Ellenbogen an, welcher auf seinen gezwungen ausgestreckten niedersauste... und kurz davor wieder zum stehen kam.


„Brich ihm schon den Arm“ hörte sie die bekannte, befehlsgewohnte Stimme ihrer Chefin seitlich von sich. „Ich.. ich will ni…“ Ein Schmerzensschrei unterbrach den von ihr angefangenen Satz. Ihr Schmerzensschrei. Der Schlag mit seiner zur Faust geballten rechten traf sie mitten aufs Ohr und sorgte dafür, dass sie benommen seitwärts taumelte, das Handgelenk loslassend. Um ihr Gleichgewicht kämpfend irrte sie einige Schritte umher, versuchte rechts und links, oben und unten für sich neu zu ordnen, als sein plattentragender Fuß hart auf ihren Magen traf.
Sie krümmte sich nach vorn und rang panisch um Luft, dann veränderte sich ihre Wahrnehmung. Als wäre sie unter Wasser getaucht worden klangen Worte und Geräusche dumpf an ihr Ohr ohne das sie sie länger verstehen konnte. Tränen füllten ihre Augen und nahmen ihr die Sicht. Einen kleinen Moment lang fühlte sie sich schwerelos, bis irgendetwas schließlich die Schwerelosigkeit wieder unterbrach. Sie wusste, dass es der Boden war, weil es nur der Boden sein konnte, der ihren Fall stoppte, doch fühlte sie dessen Kälte nicht, fühlte auch keinen Schmerz, während sich ihr Bewusstsein langsam verabschiedete.
Wie aus weiter Ferne hörte sie das Dröhnen eines Schusses, dann wurde es dunkel um sie herum.




Schwer ausatmend riss sie die Augen auf. Es dauerte eine Weile, bis ihr Gehirn die Eindrücke verarbeitet hatte: Halbdunkel. Betten. Mehrstimmiges Schnarchen.
Sie drehte sich keuchend auf den Rücken, versuchte den viel zu schnellen Atem wieder zu beruhigen, während sie mit den Händen durch ihr Gesicht wischte und kurz darauf die Unterarme auf ihre Stirn stapelte.


Wunderlampe. Gemeinschaftsschlafsaal. Traum…
Sie rollte sich auf die Seite, bis sie ihren Bettnachbarn beinahe berührte, zog ihre Knie bis an den Bauch heran und zog den Kopf ein.
Das regelmäßige Schnarchen der Gäste, die Wärme des Körpers neben sich und die eingenommene Haltung gaben ihr ein leises Gefühl von Sicherheit, ließen sie wieder zur Ruhe kommen.


„Zu viele Boxkämpfe, Fräulein.“ schalt sie sich gedanklich und seufzte tonlos. „Zu viele Kämpfe…“
Sie schloss die Augen und verharrte bewegungslos, bis sie irgendwann wieder einschlief.