Nullpunkt

Ihr erster Tag am Kolleg der Statik bedeutete für Nillu vor allem eines: Hoffnung. Alle Hinweise auf das unansehliche Stütz-Skelett waren unter modischer Kleidung verborgen, die Krallen gestutzt, Zähne, Gesicht und Ohren geputzt und die schwarzen Haare ordentlich gekämmt. Die Lehrstunde der theoretischen Golemantie hatte sie förmlich in sich aufgesogen und danach sogar angeregt mit Xatt darüber diskutiert - etwas, das sie sich in der vorigen Ausbildung NIE getraut hätte. In der praktischen Trainingseinheit trat dann jedoch ein, wovor sie sich schon den ganzen Tag gefürchtet hatte: Sie war ZU gut.


Die von Übungsleiterin Kemmo verlangten Aufgaben - Gleichgewicht und Koordination (einen Hindernisparkour bewältigen), Geschick (ein komplexes Muster mit der Golemhand nachzeichnen) und Reaktion (ein Ballwurf-Spiel meistern) beweisen - fielen ihr nicht schwer. Nicht nur hatte sie schon früh eine Veranlagung für das Steuern von Golems gezeigt und über die Jahre durch gezielte Förderung viel Erfahrung gesammelt, nein, sie kannte auch das konkrete Modell (den BXT-71a), in dem sie die Tests absolvieren mussten. Ihr Erfolg selbst war dabei jedoch bei weitem nicht so fatal wie die Tatsache, dass sie damit Flakka gekränkt hatte.


"Ich habe keine Ahnung, für wen du dich hältst", sagte die blonde, braunhäutige Asura mit den großen Ohren süffisant und jedes Wort triefte dabei nur so vor gerechter Verachtung. Sie hatte Nillu in der Dusche überrascht und mit ihren drei beinahe ebenso gut aussehenden Mitläuferinnen in die Enge gedrängt. "Aber das hier ist mein Debüt - und es ist eine Ein-Genie-Nummer."


Nillu schwieg und sah zu Boden. Sie hatte von der Tochter von Professor Flett gehört. Arrogant, gewalttätig - jedes Wort könnte sie dazu bringen, mit physischer Aggression zu reagieren, etwas, das um jeden Preis zu vermeiden war.


Doch Flakka reichte das bedrückte Schweigen offenbar nicht aus. "Ich bin nicht sicher, ob du verstanden hast, wo dein Platz ist, Null!", säuselte sie und kam Nillu dabei gefährlich nahe.


Die versuchte, zurück zu weichen und hob abwehrend die Hände. "Woher ..."


"... ich deinen alten Spitznamen kenne?", beendete die Blonde selbstgefällig lächelnd ihren Satz und kam noch etwas näher. Die blassrosa Augen bohrten sich in ihre eigenen, dunkelblauen. "Ich habe natürlich deine Akte gelesen."


In Nillu stieg nackte Angst empor. Sie presste sich an die Wand und auf einmal wurde ihr bewusst, wie nass und glitschig der Boden unter ihren Füßen war. Wenn sie stürzte, bedeutete das mindestens eine schwere Verletzung. Doch war die Gefahr, die von Flakka ausging, möglicherweise noch viel größer.


"Ja, ich weiß, warum du dieses modische Gestell trägst, du kleiner Defekt", grinste die Professorentochter sie an. "Mal sehen, ob du dich immer noch für etwas besseres hältst, wenn du darauf verzichten musst!"


Mit diesen Worten gab Flakka ihren Freundinnen ein Handzeichen und die drei Mädchen packten Nillu und zerrten sie zu Boden. Die Angst schlug in Panik um. Wehrte sie sich, brachen die vier ihr - wissentlich oder nicht - sicherlich alle Knochen. Und so blieb ihr keine Wahl als die Mädchen gewähren zu lassen. Schnalle um Schnalle befreiten die Angreifer sie von ihrem Stütz-Skelett. Erst als sie nackt und hilflos vor ihnen lag, traten sie zurück und betrachteten giggelnd ihr Werk.


"Oh, eins noch", sagte die blonde Professorentochter wie beiläufig. Doch anstatt fortzufahren schwieg sie. Erst als Nillu wie betäubt zu ihr aufsah, schaltete sie die eiskalte Dusche ein und beendete zischelnd ihren Satz: "Lass deine Finger von meinem Xatt!"


Der Schock des kalten Wassers schoss durch ihren Körper und reflexartig rollte sie sich zusammen. Das sich langsam entfernende Lachen der Mädchen klingelte ihr in den Ohren, doch erst als die vier nicht mehr zu hören waren, erlaubte sie sich, zu weinen. Es war nicht im geringsten so wie zuvor.


Es war schlimmer.

"That which can be asserted without evidence can also be dismissed without evidence." - Christopher Hitchens