Wendepunkt

Während die meisten Studenten des Kollegs der Statik während der Projektphase die Bibliothek und Werkstätten aufsuchten, in Schwärmen über die Schankbereiche Rata Sums herfielen und jede freie Stelle in der Frick-Halle mit ihren Aufbauten oder Notizen belegten, gab es nichts, was Nillu noch im Kubus hielt. Für sie untypischerweise zog es sie stattdessen nach Löwenstein, wo ihre Erzeugerin Arbeit bei einem Projekt der Menschen gefunden hatte.


Die kleine Wohnung in Fort Marriner unterschied sich rein äußerlich kaum von den anderen Zimmern, die man den Portalbeobachtern zur Verfügung gestellt hatte - einzig der Türklopfer war durch einen technomagischen Druckknopf ersetzt worden. In ihrem Innern jedoch zeigte sich deutlich, welchem Volk die Bewohnerin entstammte. Das gesamte Inventar war in Asura-Größe gehalten und die Hälfte des Zimmers, das eine für einen Norn ausreichende Größe besaß, war durch zwei gezogene Böden in drei Stockwerke aufgeteilt, die sich über kleine Holzleitern erreichen ließen. Eines dieser drei Stockwerke beinhaltete nicht mehr als das große, bequem aussehende Bett. Das zweite war als Hobby-Raum eingerichtet und enthielt Skizzen und Berechnungen, die in der Freizeit ihrer Mutter entstanden sein mussten. Das am Fenster zum Innenhof des Forts gelegene dritte hingegen war ganz ihrer Arbeit gewidmet.


Kaum hatte Nillu den Melder betätigt, da öffnete sich schon die Tür. Ihre Erzeugerin musste sie bereits auf dem Weg gesehen haben, was bedeutete, dass sie sie gerade bei der Arbeit störte.


"Sa-", setzte sie an, ihre Mutter beim Namen zu nennen, doch da verzagte ihr die Stimme und dicke Tränen kullerten über ihre Wangen.


Nur einen kurzen Augenblick sah Savinu die Nebeltechnikerin ihre Tochter erschrocken an, dann nahm sie sie bereits sanft in die Arme und zog ihren Kopf auf ihre Schulter. Wie das letzte Mal Jahre zuvor streichelte sie ihre Haare und gab ihr Halt, ohne sie versehentlich zu verletzen. Erst als Nillu, die in ihren Armen wieder zu einem kleinen Mädchen geworden war, zu weinen aufgehört hatte, führte sie sie hinein und schloss hinter ihnen die Tür.


In vertrautem Schweigen verstaute sie die Reisetasche ihrer Tochter, wärmte eine Mahlzeit auf und sah ihrer Kleinen beim Essen zu.


"Ich glaube nicht, dass ich am Kolleg richtig bin", gestand Nillu schließlich mit belegter Stimme.


Savinu hakte gleich nach. "Was ist passiert?", fragte sie mit mütterlicher Sorge.


"Ich kann die Leistung einfach nicht erbringen", wich die Tochter aus. Doch Scham und Lüge standen ihr ins Gesicht geschrieben. Sie schaffte es nicht einmal, ihrer Mutter dabei in die Augen zu sehen.


"Wir wissen beide, dass das nicht stimmt", antwortete die mit sanfter Strenge. "Sag mir, was wirklich passiert ist."


Wieder stiegen Nillu die Tränen in die Augen. Zwar war sie aufgrund ihrer Krankheit immer eine Außenseiterin gewesen, aber so viel wie dieser Tage hatte sie nie geweint - nicht einmal vor Schmerzen. "Ich mache alles falsch", erklärte sie schniefend. "Ich habe versucht, Freunde zu finden, aber der ganze Jahrgang hasst mich. Sie lachen über mich! Selbst wenn ich die richtigen Antworten gebe, lachen sie mich aus. Wenn die Professoren mich loben, dann zahlen sie es mir heim. Flakka - Nachwuchs von Professor Flett - ist die schlimmste." Inzwischen weinte sie wieder ganz offen. "Ich kann nicht mehr weitermachen, Mama. Ich kann keine Golems mehr steuern, ich kann keine Tests mehr bestehen, ich kann mein Projekt nicht abschließen und ich kann ganz sicher nicht mehr dahin zurück gehen."


Savinu biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass ihre spitzen, kleinen Zähne durch die Haut drangen und der eiserne Geschmack von Blut ihren Mund füllte. Ihr war schlecht vor Wut und sie wusste nicht, was sie tun sollte, was sie tun konnte, um ihrer Tochter zu helfen. Nach langem Überlegen entschloss sie sich, die Situation erst einmal zu entschärfen und den Druck von Nillus Schultern zu nehmen. "Wenn du nicht mehr zurück kannst, dann musst du wohl erstmal bleiben", entschied sie. "Aber dein Talent im Umgang mit den Golems ist zu ausgeprägt, um es einfach zu verschwenden. Wenn du hier bleibst, will ich, dass du jeden Tag daran arbeitest."


Zum Lohn für ihre Worte konnte sie förmlich sehen, wie ihrer kleinen Golempilotin ein Stein vom Herzen fiel. Doch während ihr die Tochter um den Hals fiel und sie sie erneut vorsichtig in die Arme nahm, war ihr vollends bewusst, dass sie sich damit bloß Zeit erkauft hatte. Eine richtige Antwort war noch lange nicht in Sicht.


Die nächsten Wochen brachten weiteren Aufschwung mit sich. So früh es ging hatte Savinu mit ihrem Arbeitgeber über Urlaub verhandelt, um mehr Zeit mit ihrer Tochter verbringen zu können. Traditionell musste ihr Nachwuchs eigentlich längst für sich selbst sorgen, doch in dieser Situation waren der Nebeltechnikerin die Traditionen egal. Ihr Kind litt Qualen, also hatte der Unraum zu warten. Er würde schon nicht fortlaufen oder explodieren - das hoffte sie zumindest.


Kaum hatte sie ihren Urlaub durchgesetzt, nahm sie Kontakt zum Kolleg ihrer Tochter auf. Als Absolventin des Kollegs der Synergetik hatte sie keine guten Kontakte zu den Statikern, doch der Betreuer von Nillus Projekt stellte sich als perfektionistisch genug heraus, ihr einen Wechsel ihrer Zielsetzung zu gestatten, wenn die neue Richtung bloß vielversprechender war als die vorherige. Die Schwierigkeit bestand lediglich darin, dem Statiker eine Idee schmackhaft zu machen, die auch von einem Studenten der Dynamik hätte stammen können. Schlussendlich gelang es Savinu, den älteren Asura dadurch zu überzeugen, dass sie alle Bauteile auf bekannte und erprobte Konzepte zurück führte, die Nillu lediglich effizienter zu nutzen gedachte.


Mit Bedacht gewöhnte sie ihre Tochter an den Gedanken, zumindest zum Kolleg zurück zu kehren, um dort alle wichtigen Prüfungen zu absolvieren. Wo Nillu für die Tests lernte, das war Savinu herzlich egal, solange sie nur bestand. Zwar reichte theoretisch ein einziger Modulblock aus, um ihre Zukunft als Golem-Kampfpilotin zu sichern, doch wollte sie zu den Besten gehören und für ihre Karriere alle Türen offen stehen haben, dann waren alle weiteren Teile der Ausbildung am Kolleg auf keinen Fall zu vernachlässigen. Und so stellte sie ihrem Nachwuchs während des Löwensteinaufenthalts Golempiloten aus dem Nebelkrieg vor, organisierte ihr einen Termin bei den Anwerbern der Wachsamen und zeigte ihr die Lastarbeiter in ihren Golemanzügen. All das entfachte zwar noch lange nicht das alte Feuer in Nillu, es weckte aber zumindest ihren Ehrgeiz. Und als Savinu ihr anbot, sie nach Rata Sum zu begleiten, da lehnte sie ab. Obwohl sie damit zumindest den Willen zeigte, sich ihren Problemen allein zu stellen, lies sich die besorgte Mutter trotzdem versichern, dass sie zu ihr zurückkehren würde, sollte sie keinen Erfolg haben.


Schlussendlich blieb nur noch das Problem der Zukunft ihrer Tochter. Die für eine angehende Golem-Kampfpilotin wichtige Ausbildung noch unter den besten drei zu beenden, war an diesem Punkt selbst mit mütterlicher Hilfe effektiv unmöglich. Die Lösung fand sich hier - wie so oft - im Kleingedruckten. Jedes Jahr wurde zum Abschluss der Ausbildung ein Wettkampf der Golempiloten veranstaltet: Das Seifenblasenturnier. Die Prämisse war simpel: Friedenswächter, Dynamiker, Statiker, Inquestur und unabhängige treten alle gegeneinander an, beweisen ihre Fähigkeiten und küren den Jahrgangsbesten. Eine Subklausel gestattet dabei jedoch, auch gegen Mitglieder der eigenen Organisation anzutreten, die nur einen Rangpunkt über dem eigenen liegen, um wie eine Seifenblase durch die Ränge aufzusteigen. Eine einzige Niederlage lässt jedoch die Blase platzen und den Herausforderer wieder auf seinen ursprünglichen Rang abstürzen. Und da man niemanden zweimal fordern darf, ist ein erneuter Aufstieg unmöglich.


Standard-Golemmodelle wurden bei einem solchen Turnier vom Kolleg gestellt, was in der Vergangenheit oft dazu geführt hatte, dass sich jeder genau den Golemtypen zu sichern versuchte, mit dem er einen Vorteil gegen die ihm jeweils nächsten in der Rangfolge hatte. Egal welches Modell Nillu also bekäme, es würde ihr schwer fallen, gegen alle vor ihr liegenden Kommilitonen zu siegen. Aber Savinu war eine Mutter und für Mütter ist nun einmal nichts unmöglich, wenn sie ihren Kindern helfen, also löste sie auch dieses Problem.

"That which can be asserted without evidence can also be dismissed without evidence." - Christopher Hitchens