Alte Freunde, alte Feinde

Mit einer Zielsicherheit wie sie nur ein kosmischer Himmelskörper aufbringen konnte durchbrachen die Strahlen der Sonne das Schlafzimmerfenster und landeten genau auf dem Augenlid, das zwischen etlichen Kissen, Decken und einem wilden Dickicht silberner Haare zu erkennen war. Es begann zu zucken, als sich das Licht durch die Haut bahnte und ihre Besitzerin gewaltsam aus der pechschwarzen Umarmung eines traumlosen Schlafs enthob. Schließlich öffnete es sich und entblößt eine weinrote Iris auf weißem Grund, die dem glühenden Angriff der Sonne nur wenige Momente trotzig Gegenwehr leisten konnte. Ihre Besitzerin, Shen, zog es vor, das Gesicht ins Kopfkissen zu drehen, um letzte Momente der wohligen Leere einzuatmen, bevor sie dem jungen Tage weichen musste. Auf das Licht folgte das Erwachen der Stadt, und einmal mehr wurde sich Shen bewusst, wie ihr immer regelmäßigeres Verlassen von Götterfels ihrer Lärmtoleranz geschadet hatte.


Schließlich entwanden sich ihre dürren Hände den heillos verwickelten Laken und stemmten sich in die dünne Matratze, um es dem Rest von Shen gleich zu tun und sie in die Vertikale zu bringen. Auch brauchte es beide Hände, um ihr die Mähne aus dem Gesicht zu schieben, damit die trägen Seher sich im Zimmer umsehen konnten - und an den weit offenen Vorhängen des angelehnten Fensters hängen blieben, die sich im sachten Luftzug bewegen. Bisher hatte sie es stets verschlossen und die Stoffbahnen zugezogen, um neugierigen Blicken Einhalt zu geben, doch konnte sie sich nicht daran erinnern, es auch am Vorabend so gehandhabt zu haben. Tatsächlich konnte sie sich an nichts erinnern, was sich am Tag zuvor zugetragen hatte. Was es auch war, sie bereute es jetzt schon.


Gähnend setzte Shen die nackten Füße auf die kalten Holzdielen und drückte sich mit der Handfläche auf ihr linkes Auge, hinter dem es mit jedem Moment bei Bewusstsein immer stärker zu Pochen begann, als stieße jemand einen Eiszapfen immer tiefer in ihr Kranium. Es klimperte leise, doch hallte es in ihrem Kopf wie ein Glockenspiel aus nächster Nähe. Ihr verbleibendes Auge sinkt gen Boden auf der Suche nach dem Störenfried, und fand zwei Flaschen vor – Korn und Wundreinigungsalkohol – die sie mit dem großen Zeh berührt hatte. Eine Gänsehaut ließ Shen erzittern. Sie bereute es, aufgewacht zu sein.


Sie zog ihr Nachthemd enger um die Schultern und erhob sich rasch. Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper fing Feuer, während vor ihren Augen Blitze zuckten und das Blut in ihren Ohren rauschte wie ein Sturzbach. Shen wankte und griff nach dem Treppengeländer, welches sie umklammerte als wäre sie auf hoher See, und die aufkommende Übelkeit hinunterschluckte. Wie ein salziger Regen ließ sie die Schmerzen über sich ergehen. Sie bereute es, aufgestanden zu sein.


Vorsichtig schlich Shen zu ihrem Schrank, um sich anzukleiden. Beim Abstreifen des Nachthemdes konkretisierten sich die Schmerzen. So warf sie die Tür wieder zu, um sich im Spiegel an der Außenseite anzusehen. Es erwartete sie noch immer Shen, heute mehr blass als rosig, doch mit neuen Schönheitsmerkmalen: Ein massiver Bluterguss an der Hüfte, eine schmerzhafte Prellung der Rippen und Schürfungen beider Knie. Sie spreizte die Finger, von denen sich blutige Kruste löste und hinabrieselte wie Schneeflocken. Das Unwohlsein kehrte zurück, Schwindel überkam sie. Sie bereute es, in den Spiegel geschaut zu haben.


So zog sie sich behutsam an, eine warme Strumpfhose, Socken und ein dicker Rollkragenpullover gegen die Kühle des Wintermorgens. Derweil versuchte sie sich mit zunehmender Verzweiflung an den Vorabend zu erinnern. Wie sie sich ihre Verletzungen zugezogen haben könnte. Doch war da nichts in ihrem Kopf als das dumpfe Pochen. Während sie ihrer Reflexion die Haare bändigte, hing ihr Blick an den zerschundenen Knöcheln der Hand, die die Bürste führte. Mit vollbrachtem Werk traf sie ihren Blick, die tiefroten Augen lagen blank – niemand würde erahnen, dass sie gerade mit der eisigen Hand Grenths ihre aufkommende Panik in den Eingeweiden begrub.


Ein Geräusch aus dem Erdgeschoss ließ sie zusammenzucken, das Klimpern von Porzellan. Von ihrer Position vor dem Schrank konnte sie die Treppe hinabblicken, doch allem Anschein nach hatte sie am Vorabend daran gedacht, dort die Fensterläden zu schließen, ob des Halbdunkels, dass sie dort erwartete. In just diesem Moment wurde sich Shen schlagartig der Abwesenheit sowohl ihres geliebten Langschwerts als auch der fokussierenden Stulpenhandschuhe bewusst, von denen nach einem raschen Umsehen im Dachzimmer jede Spur fehlte.


Lautlos knirschte Shen mit den Zähnen. Die dicken Strümpfe dämpften jeden ihrer Schritte auf der hölzernen Treppe, während ihre Oberschenkel in stillem Protest zu zittern begannen. Die Linke glitt entlang des Geländers, während die Rechte mit gekrümmten Fingern in einer greifenden Pose an ihrer Hüfte verharrte. Sie wagte zwei geduckte Schritte, während das Pochen hinter ihrem Auge an Intensivität zunahm. Ein Blick ins Halbdunkel der Wohnstube lieferte keinerlei Auskunft, also tat sie zwei weitere Schritte. Ihr Unwohlsein begann sich zu legen. Am Fuße der Treppe erkannte sie die familiäre Form ihres Langschwerts, angelehnt an den Fenstersims und umrahmt vom Licht der Morgensonne, dass durch die geschlossenen Läden hindurchsickerte. Ein paar Schritte noch.


Auf der vorletzten Stufe angelangt erhob sich eine Stimme aus dem Dunkel.


„Guten Morgen, Agent.“


Shens Rechte schnellte nach vorn und aus ihren Fingern löste sich eine geisterhafte Hand, die von einem Schwall eisigen Polarwinds angetrieben nach vorne schoss und sich um den Griff des Langeschwerts schloss. Einen Lidschlag später lag es in ihrer Hand und Shen wirbelte herum, um die Klinge in den Raum zu richten. Mit einem Fuß auf der letzten Treppenstufe und einem auf dem gefliesten Boden stierte Shen mit geweiteten Augen entlang der Waffe ins Halbdunkel, aus dem sich die Umrisse der Küchenzeile und ihres Schreibtischs schälten.


„Zeigt euch“ zischte sie.


Etwa zwei Schritt links von ihr, entspannt an die Treppe gelehnt und mit einem Tee samt Untertasse in der Hand, stand ein Mann gekleidet in einem blauen Wams und Reiterhosen. Das blonde Haar war zu einem kurzen Zopf gebunden. Er blickte Shen von der Seite an, während sie dramatisch die Klinge auf einen vermuteten Feind in ihrer Küche richtete und nippte an seinem Tee.


„Oh verzeiht, ich dachte ihr beharrt noch auf euren Übergangstitel, Miss Argyrus.“


Shen schwang das Schwert herum, dass es auf den Eindringling gerichtet war. Ihr roter Blick funkelt verärgert auf, doch weichte ein Teil der Anspannung von ihr.


„Wie seid ihr hier reingekommen?“


Der Mann blinzelte ein paar Mal mit den grauen Augen und deutete dann kurz durch den Raum. Sachte schmunzelte er.


„Na, durch die Haustür. Ich wäre durchs Fenster gestiegen, doch war dies nicht notwendig.“


Blick und Klinge noch immer auf den Fremden gerichtet schlich Shen durch die Wohnstube zu ihrer Tür. Mit einem kurzen Blick wurde jene überprüft. Tatsache, das Schloss war intakt und auch sonst gab es keine offensichtlichen Einbruchsspuren. Der Mann breitete ein wenig die Arme aus.


„Welch Misstrauen, ich bin schwer getroffen. Nach allem was wir gemeinsam durchgemacht haben.“


„Wovon redet ihr? Wer seid ihr überhaupt?“


Einen Moment schwieg der Blonde. Seine Augenbrauen zogen sich etwas zusammen. Der Schalk wich aus seiner Stimme. „Ihr erinnert euch wirklich nicht? Die haben euch wohl übler erwischt als ich dachte.“


Shen ließ ihre Klinge sinken. Der Ärger wich aus ihren Zügen, ein Ausdruck beherrschter Verunsicherung trat an dessen Stelle. Langsam ging sie von Fenster zu Fenster, um die Läden aufzustoßen. Licht flutete die kleine Wohnstube. Shens Kopf schrie in stiller Pein.


„Was ist passiert?“


Der Mann stellte die Tasse auf Shens überquellendem Arbeitstisch ab und faltete die Hände hinter dem Rücken. „Ihr habt Feinde, Miss Argyrus. Feinde mit einem langen Gedächtnis und tiefen Taschen. Jemand hat versucht, euch zu überfallen und zu vergiften. In welcher Reihenfolge ist nicht ganz klar, doch gehe ich davon aus, dass man euch erst etwas ins Getränk gemischt hat, nur um euch auf dem Heimweg verschwinden zu lassen.“


Shen schluckte schwer. Das Unwohlsein kehrte wieder. Sie spürte, wie ihr kalter Schweiß das Rückgrat hinabrann. Der Griff der geschundenen Rechten um den Schwertgriff verfestigte sich. Schließlich blieb sie stehen und lehnte sich an einen Fenstersims.


„Ihr habt sie verjagt. Scheinbar hat diesen Halunken niemand erzählt, mit wem sie es wirklich zu tun haben.“ Der Mann fuhr fort, während Shen den Kopf etwas hängen ließ, um das Langschwert zu betrachten. Ein Drehen und Wenden offenbarte dunkles Blut entlang der Schneide. Viel hatte sie nicht gekostet, doch war es wohl genug.


„Ich habe mich dann um eure Vergiftung und Wunden gekümmert.“ So endete der Mann und schlürfte an seinem Tee, den er wieder aufgenommen hatte. Shen runzelt die Stirn und hob den Blick, um ihn zu mustern. Im Licht konnte sie ihn besser erkennen. Shen kannte ihn nicht, doch Dutzende WIE ihn. Seine Uniform ließ keinen Zweifel übrig. Schließlich lehnte sie ihre Waffe zurück an den Fenstersims, um sich von jenem abzustoßen und die Hände in die Hüften zu stemmen. Das Kinn leicht angehoben ergriff sie das Wort.


„Ich nehme nicht an, dass ihr mir erklärt, wie ihr mich in meiner Bredouille gefunden habt. Geschweige denn meine Wohnung. Geschweige denn meinen Schlüssel.“


„Letzteren hattet ihr bei euch.“ Da war er wieder, der Witz, der einem Agenten der Krone ein bisschen zu gut zu Gesicht stand. Er leerte seine Tasse und marschierte dann in gediegenem Abstand zu Shen durch den Raum, um sie in die Spüle zu stellen. „Wir legen viel Wert auf die Unseren. Selbst auf Schläfer wie euch.“ Fügte er an, ihr den Rücken zugewendet.


„Ich bin keine Schläfer-Agentin.“ Shens Entgegnung kam schnell und bestimmt.


„Natürlich nicht, Miss Argyrus.“ Der grauäugige Agent wandte sich um und salutierte mit einem schelmischen Schmunzeln. „Trinkt viel Wasser, bleibt dem Alkohol ein paar Tage fern… Und lüftet etwas mehr als sonst.“ Mit diesen Worten steuert er auf die Tür zu, öffnet sie leise und verlässt die Wohnung ohne Shen eines weiteren Wortes oder Blickes zu würdigen. Die Tür fiel leise hinter ihm ins Schloss.


Stille kehrte ein. Stille, untermalt vom dumpfen Lärm der Stadt außerhalb der dünnen Fenster. Shen schloss den bereits zur Erwiderung geöffneten Mund wieder. Sie ließ den Blick schweifen. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an. Bekam sie ein Fieber? Ihre Schritte auf den Fliesen waren dumpf, als sie sich zu ihrem Arbeitstisch schleppte und sich auf dem wackeligen Stuhl niederließ. Zwischen den Aufträgen und auszustellenden Dokumenten stand eine noch dampfende Kanne Tee und eine leere Tasse. Shen befüllte sie und nahm die warme Tasse in beide Hände. Der Geruch von Kamille erfüllte den Raum.


„Je mehr sich verändert, desto mehr bleibt gleich.“ Murmelte sie leise, ehe sie langsam begann, ihre Arbeit zu sortieren. Sie war in ihrem Zeitplan zurückgefallen. Ihr Besuch bei den Wachsamen ließ sich nicht länger aufschieben. Eine Exkursion kam ihr gerade gelegen, hatte sie doch einmal mehr ihre Toleranzgrenze für die Intrigen von Götterfels erreicht.

Kommentare 4

  • Ich mochte den Text. Die Stimmung der verschiedenen Abschnitte ist sehr greifbar, genauso wie das Ambiente. Du brauchst nicht unbedingt viele konkrete Worte, um eine dichte Atmosphäre zu schaffen. Der Text läuft herunter wie ein Film, dem man gut folgen kann, ohne nur an der Oberfläche mitzuschwimmen. Beide handelnden Charaktere sind lebendig und sympathisch. Mal schmunzelt man, mal verzieht man die Mundwinkel bei der Vorstellung, was passiert sein könnte.


    Ein schöner Einblick, der Lust auf mehr macht.

    • Ich bin etwas rostig was das schreiben von Geschichten angeht, aber freut es mich sehr dass er sich so gut lesen lässt! Ich hoffe ihre Geschichte immer mal wieder mit solchen Texten zu ergänzen, je nach dem wie es mir zeitlich möglich ist. LG

  • Sehr toll geschrieben!