Rinnstein

Es war ein lauter und kühler Tag und doch ging es geschäftig am Felsen zu. Die Händler der Hochstraßen bereiteten sich auf den angehenden Wintertag vor und richteten ihre Schaufenster für die neugierigen Blicke her. Mägde und Diener trafen sich zum täglichen Tratsch an den Marktständen des Rurikplatzes während die vornehmen Herren und Damen in ihren Cafés sich selbst beweihräucherten.


Die Schritte der fürstlichen Absatzschuhe hallten über das Kopfsteinpflaster von Rurikstadt, für eine Frau, die eigentlich so tat, als würde sie einen Gehstock benötigen, kam sie aber schneller voran als so manche Dame mit deutlich weniger Jahren auf den Knochen. Addison hatte ungewöhnlich gute Laune, gar sogar ein Lächeln im Gesicht, was für ihre Freunde sicher von beängstigender Natur hätte sein können, doch die Fürstin hatte heute viel zu tun und wie so manch anderer Adliger, war auch sie dabei die ersten Geschenke für den Wintertag zu kaufen. Beladen mit einer Vielzahl von Tüten marschierte sie in Richtung ihres Hauses zurück, doch als die warme Sonne auf sie traf, hielt sie mit einem Mal inne und reckte das Haupt in die Höhe. Es war ein herrlicher Tag, eigentlich sogar eine herrliche Zeit, immerhin hatte sie einen der wichtigsten Menschen in ihrem Leben wieder zurückgewonnen und Lorna gestattete es ihr regelmäßig den Tag mit ihrer Enkeltochter zu verbringen, sogar so oft, dass man sie teilweise schon bei gesellschaftlichen Ereignissen vermisste. Nachdem sie einen Moment die Sonnenstrahlen genossen hatte, führte ihr Weg sie um eine Ecke hinein in eine kleine Gasse, in der mittig im Rinnstein ein verlassenes Buch lag. Addison sah sich knapp um doch weit und breit war keine Menschenseele mehr und so nahm sie das Buch schließlich an sich und kam schließlich zu Hause an.


Vergessen war das Buch für den Moment. Sie hatte andere Dinge zu tun und unbeachtet lag es auf ihrem Wohnzimmertisch herum. Es zogen Stunden ins Land und schließlich, am Abend, setzte sich die Fürstin mit einem Glas Rotwein in der Hand auf ihr Sofa und nahm endlich das Buch wieder in die Hand. “Nun erzähl mir doch, wer dich verloren hat.” Behutsam drehte sie es in der Hand herum und suchte nach einem Namen, doch erst als sie es aufschlug, fand sie den Besitzer heraus: Faelasniel van Laerendeçzie.


Addison huschte ein schmunzeln über die roten Lippen, der Jüngling aus der Rurikhalle hatte doch tatsächlich sich Tagebuch verloren und welch köstlichere Kost als die privatesten Gedanken eines jungen Mannes gab es denn auf dieser Welt. Addison überschlug die Seiten und zum Teil wirkten seine Gedanken recht banal für ihren Geschmack, aber wenn man schon einmal ungestört die Nase in fremder Leute Angelegenheit stecken konnte, dann musste man es auch ausnutzen.Addison nippte an ihrem Wein, als sie die erste interessante Stelle passiert hatte. Der Herr war zerrissen von seinen eigenen Gefühlen, und je mehr sie las, desto mehr Mitleid bekam sie mit ihm.


“Sie sollten mir eine Familie sein, aber warum fühle ich mich dann, als spräche ich mit Fremden?”, immer und immer wieder laß sie die Passage und schluckte schließlich schwer. Die Augen flogen über die nächsten Zeilen und wieder blieb sie an einer Passage hängen, die ihr furchtbar vertraut vorkam: “Ich will nicht vergessen! Sie sind alles was ich habe, alles was ich bin! All die Fehler und all die Freuden, die mich gelehrt haben, die mein Leben geformt haben. Wie könnte ich sie einfach wegwerfen? Welcher Preis könnte genug sein, um all das aufzuwiegen? Bisher sehe ich nur leere Versprechen. Ich bin allein in dieser ‘Familie’, ich bin allein unter Menschen und ich bin richtungslos”. Addison schlug das Buch zu und schloß die Augen, tief holte sie Luft und nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas, ehe sie die Seiten wieder aufschlug und doch weiter laß, Faels Gedanken, so fremd er ihr auch war, kamen ihr so schrecklich bekannt und vertraut vor und mit jedem Wort das ihre Augen erblickte, fühlte sie den Schmerz des jungen Mannes tief in ihrem Herzen. Es war eine der letzten Zeilen, die sie nun gänzlich erstarren ließ, wieder laß sie die Zeilen mehrfach bis sie regelrecht in ihrem Kopf wiederhallten: “Alles, was er mir angetan hat, vergeben und vergessen? Wenn ich das tue, ist nichts mehr von mir übrig. Ich fühle mich wie eine weiße Leinwand.”

Sie schlug das Buch zu und stellte ihr Glas auf den Tisch ab, ehe sie recht zügig zur Haustür schritt. “Jocelyn, ich bin nochmal aus. Ihr habt den Rest des Abends frei.”, rief die alte Fürstin in die Küche hinein und drückte das Buch an ihre Brust. Eingepackt in einen dicken Mantel und erneut ohne ihren Gehstock bewaffnet, verschwand sie in die Nacht hinaus.

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