Ein durchschnittlicher Tag

Es war irgendwie im Sommer. Ruki war um die 10 Jahre alt und hockte am Fenstersims, sah den anderen draußen zu. Wie sie miteinander spielten, geschäftig unterwegs waren, im Schatten saßen und sich unterhielten. Es war so oder so recht warm, beinah heiß. Die Sonne brannte vom blauen Himmel und wurde von den umliegenden Häusern und gepflasterten Straßen als Wärme eingefangen, was einem zusätzlich vorgaukelte es sei noch wärmer. Den jungen van Vollenhove hatte mal wieder eine neue Krankheitswelle erwischt, daher war er nicht mit draußen. Der sehnsüchtige Blick hing an den spielenden Kindern. Er würde auch gern mal so durch einen Wasserstrahl rennen. Ein Seufzen entrang sich seiner Kehle.


Es war nicht so ganz klar, wieso er so kränklich war. Wieso es immer und immer wieder aufflammte und ihn dann auch stets so mitnahm. Immerhin fühlte er sich heute gut genug, um in eine Sofadecke gehüllt dort zu sitzen und ein paar Aufgaben zu erledigen, die der Lehrer ihm aufgegeben hatte. Sicherlich keine Lieblingsbeschäftigung, aber eben wichtig. Wenn man es machte, hatte man es hinter sich und konnte sich anderen Dingen widmen. Ruki war zu einer richtigen Leseratte geworden. Der zog sich gefühlt die schwersten Bücher rein, die es für einen 10jährigen gab. Da reichte eine einfache erzählte Geschichte einfach nicht. Stattdessen war es Irgendwas, dass er später wahrscheinlich auch noch gebrauchen konnte.


Er hatte früher schon die eher schwierig zu verstehenden und durchaus Angst machenden Märchen gelesen. Genau jene, wo wohl die meisten Kinder hinterher nicht mehr allein schliefen. Nun schnappte er sich, nachdem er die Aufgaben fertig hatte, ein dunkelrot eingebundenes Buch, legte dies auf seinen Schoß. Vorsichtig wurde es geöffnet, um dann nach dem Lesezeichen zu suchen und dort weiterzumachen, wo man hatte zwangsweise aufhören müssen. Er schien sich an einiges nach Außen hin so gewöhnt zu haben, dass er kaum jammerte. Ein stilles Kind, welches sich wohl sehr gut selbst beschäftigen konnte. Fleißig lernte. Nur eines fehlte. Freunde! Es gab Niemand in seinem Alter, mit dem er über eben jene Dinge sprechen konnte, die einen Jungen in seinem Alter so beschäftigten. Ein paar Sachen wollte man einfach nicht mit den Geschwistern oder gar den Eltern besprechen. Zumal selbst seine Schwester 15 Jahre älter war. Die Brüder waren ja nur noch weiter weg vom Alter her und das wirkte für ein Kind einfach voll alt. Jedenfalls…


Er las ein Buch das sich ‚Ich bin ein Stern‘ nannte und durchaus auch mit realen Hintergründen arbeitete. Keine rein ausgedachte Geschichte. Das machte dies ein umso schwereres Buch, da dies keine Welt war die Ruhe kannte. Im Gegenteil. Kaum war der eine Konflikt halbwegs gelegt, tauchte der nächste auf. Das Buch wurde aus der Sichtweise einer Tochter erzählt, die in schlimmen, bewegenden Zeiten mit ihren Eltern versucht zu überleben.


Rukis Haare waren heller geworden. Immer mehr graue Strähnchen zeigten sich und durchzogen die vielen dunkelblonden Haare wie eingefärbte Strähnchen. Es war, als würde sein Körper sagen, dass die Haarfarbe aufrechthalten nicht so wichtig war wie eben andere Körperfunktionen, die nicht immer so wollten wie sie sollten. Einen guten Schuss hatte er in die Höhe gemacht, legte dadurch jedoch nicht so an Gewicht zu wie er sollte. Er aß zwar, in eher kleinen Portionen und auch ausgewogen, aber mehr als das war dann auch nicht. Der große Snacker schien er nicht zu sein. Hin und wieder mal ein paar Kekse, das war es dann aber auch. Man konnte ich nicht mit Schokolade oder Bonbons locken.


Eine ganze Weile las er vor sich hin, während die Zofe sich daran machte Abendessen vorzubereiten. Klar, der Rest war arbeiten oder irgendwelchen Treffen, Bekanntschaften, Freundschaften nachjagend. Daher kam die erste Person auch wirklich erst kurz vor Fertigstellung des Abendessens wieder nach Hause. Ein imposant ausschauender Herr. Hochgewachsen, dunkelbraune fast schwarze Haare in kurzer Frisur, grau- grüne Augen. Die Haare schon deutlich grau meliert in breiten Streifen, die ihn schon fast edel ausschauen ließen. Vom Alter her sicher der Herr des Hauses und Rukis Vater. Dieser hing den Hut auf, der Gehstock wurde in die dafür vorgesehene Vase gestellt. Schuhe ausgezogen und getauscht. Schuhe, die man draußen trug, hatten drinnen nichts verloren. Erst dann hallte die tiefe Stimme über den Flur. „Jemand zuhause?“ Erst wurde er von der Zofe gegrüßt, die wissen wollte, ob er Hilfe bräuchte. Aber nein, sie solle nur das Abendessen zeitig servieren. Den jüngsten Sohn fand er lesend vor. Jener sah dann auch auf, das Lesezeichen vorsichtig in das Buch legend. „Guten Abend, Vater.“


Das wurde sicher ein durchschnittliches, normales Abendessen. Auch wenn von außen betrachtet fast offensichtlich war, dass nach 10 Jahren dem Herrn immer noch nicht klar war, wie er mit dem kränklichen Kind umgehen sollte. Es wirkte strenger, als es am Ende war.