Wieder ein neuer Morgen in Götterfels. Nein, glücklicherweise einer mit einem kleinen "n". Mehr Sonne, weniger Terror. Wieder ein Tag, den Emilie mehr oder weniger allein begann. Und während Marla stumm in Emilies Zimmer schlich um die Betten zu machen, ging Emilie wie gewohnt hinab ins Esszimmer, um das Frühstück zu sich zu nehmen, das bereits auf sie wartete. Wie jeden Mittwoch bestand dies aus einem Schnittchen mit frischer Aprikosenkonfitüre, einem Schnittchen mit Räucherlachs und Blattsalat, einem Becher Kakao und einem frischen Hühnerei. Zucker, Mineralstoffe, Balaststoffe und Eiweiß.
Emilie setzte sich während sie Sebastian lauschte, der wie jeden Morgen mit ihr die Termine des Tages durchging. Der Monat war wieder rum, also stand ein Treffen beim Sechsgötterschrein für die monatliche Spende an. Am Nachmittag ein Treffen mit dem Buchhalter, um die Finanzen durchzugehen. Danach hatte sie zwei Stunden Zeit, um sich die Bitten eines ihrer Mieter anzuhören, der wegen eines Lieferengpasses seine Miete nicht würde zahlen können. Schon das zweite Mal in Folge. Er würde ihr wieder erklären, dass die Lieferwege in Löwenstein zusammengebrochen sind und bis die wiederhergestellt sind er nur die Hälfte seiner Waren anbieten könne und daher nicht genug Gewinn übrig hätte, um die Miete für seine hungernde Familie zu bezahlen. So seine Geschichte, als er das letzte Mal bei ihr war. Sie war gespannt, was er sich dieses Mal würde einfallen lassen.
Während Sebastian ihr erklärte, dass er den Friseurtermin auf nächsten Montag gelegt hat, damit sich dieser nicht mit dem Fechtunterricht am Donnerstag in die Quere kommt, war Emilie beim Frühstücksei angelangt.
Natürlich befand es sich in einem Silberbecher, mit Isolierschicht um es warm zu halten. Und natürlich war es bereits gepellt, damit Madame sich nicht selbst die Finger krümmen musste. Nur irgendwie war Emilie heute davon ein wenig enttäuscht. Sie hätte das Ei gern selber gepellt. Nur konnte sie Marla das nicht sagen. Als sie Marla das letzte Mal gebeten hatte, etwas selbst tun zu dürfen, war diese auf die Knie gefallen um sich zu entschuldigen, sie würde ihre Arbeit nicht richtig machen, und dass sie sich in Zukunft mehr anstrengen würde. Marlas früherer Arbeitgeber musste ein ziemlich harter Knochen gewesen sein, wenn Marla schon Angst um ihre Anstellung hatte wenn Madame wünschte, etwas eigenhändig zu tun. Darüber würde sie einmal ein ernsthaftes Gespräch mit ihr führen müssen, wenn sie bei guter Laune war.
Als sie das Ei aß, dachte sie an Natalia. Ob sie wohl die Hühner bekommen hatte, die sie beschaffen wollte?
~
Der Bittsteller war ein Mann um die 40, rundliches, freundliches Gesicht mit dem Ansatz einer Glatze. Als er am späten Nachmittag Emilies Haus betrat und von Sebastian hereingeführt wurde, knetete er übernervös den Rand seines Hutes durch. Vor Emilie deutete er erst eine Verbeugung an und hob gleichzeitig die Hand um sie ihr zu reichen, zog sie aber verunsichert wieder zurück.
"Es gibt keinen Grund, so nervös zu sein, Herr Winkler." meinte Emilie beschwichtigend. "Ich beiße schon nicht. Nur zu, setzt Euch."
"Sehrwohl, gnä' Frau. Vielen Dank, gnä' Frau." sagte er mit weiteren angedeuteten Verbeugungen, bevor er sich endlich auf das Sofa gegenüber setzte.
"Sebastian, bringt doch bitte eine Tasse Tee für Herrn Winkler." bat Emilie, gen ihres Mieters fortsetzend "Ist Kamillentee recht?"
"Oh bitte, nur keine Umstände, gnä' Frau.", begann er, als Emilie aber nur die Brauen hob und ihn weiter anblickte, wandt er sich Sebastian zu und nickte. "Kamillentee, bitte, vielen Dank."
Sebastian nickte kommentarlos und trat ab, den Tee aufgießend.
Während sie auf den Tee warteten, blickte Emilie über die Unterlagen der Winklers, östliche Marktgasse, Haus 14 Wohnung 9b. Sie las nicht wirklich, denn sie wusste ja, was drinstand. Aber das prüfende Durchschauen der Akte erzeugte eine unangenehme Pause, die in ihrem Gegenüber ein mulmiges Gefühl aufkommen ließ. Es war so ähnlich wie damals, als Vater ihre Hausaufgaben durchsah. Das Warten. Das Strammstehen. Das Herz, das pochte, in Erwartung des Urteils. Hatte sie ihre Sache gut gemacht? Herr Winkler wusste wohl, dass es nicht gut für ihn aussah. Doch Emilie war noch nicht lange die Verwalterin. Sie wollte weder den Eindruck erzeugen, übereilig Entscheidungen zu treffen, ohne alles genau zu prüfen. Noch wollte sie ihn zu leicht davonkommen lassen. Auch wenn ihr Urteil gnädig sein würde, so ließ sie ihn erstmal schwitzen. Es war eine simple, aber wirkungsvolle Verhandlungstaktik.
Genau in dem Moment, als Sebastian den Tee brachte, erhob sie das Wort. Auch das war eine Taktik, um ihr Gegenüber aus der Reserve zu locken. Ihn gleichzeitig nach den Umständen zu fragen, während er etwas serviert bekam, erzeugte unterbewusst Schuldgefühle. Ja, sie hatte viel von ihrem Vater gelernt. Also, zumindest was das Geschäftliche betraf.
"Nun, Herr Winkler, hier steht Ihr seid erneut mit der Miete im Rückstand. Laufen die Geschäfte nicht so gut?"
"Äh..." der Mann sah erst zu Sebastian, nickte ihm höflich zu als die Tasse vor ihm abgestellt wurde, und blickte dann ertappt zu Emilie. "Ähhh..." Die Verunsicherungstaktik wirkte.
"Nunja... es gab noch immer keine Lieferung aus Löwenstein, die Handelswege sind noch immer blockiert und..."
Die alte Geschichte. Emilie sah zu ihm auf und unterbrach ihn.
"Laut den Unterlagen handelt Ihr vornehmlich mit einheimischen Waren. Der Import ist nur ein verschwindend kleiner Teil des Jahresumsatzes."
"Äh..." Er fuhr sich nervös über den Haaransatz, an dem sich bereits Schweißperlen bildeten.
"Nunja, das stimmt schon, allerdings gab es von meinen Zulieferern zahlreiche Hilfsleistungen an Löwenstein. Die Frontversorgung, die Flüchtlingslager, die wurden alle beliefert, und ich musste mit dem handeln was übrig war. Früher war das kein Problem, da hatte ich zusätzlich die Waren aus Löwenstein. Die Götterfelser Damenwelt ist ganz verrückt nach Perlen aus dem Südmeer, aber in letzter Zeit ist es für alle knapper geworden..."
Unter normalen Umständen würde sie ihm das ohne weiteres abkaufen, die Situation in Löwenstein war für zahllose Händler ein Problem. Doch das Problem von diesem einen waren keine Lieferengpässe. Das Problem war vielmehr, er war eigentlich kein guter Händler. Er war nicht raffgierig genug, gab seinen Kunden zu gern Rabatte oder schenkte bedürftigen etwas, ohne an seinen Profit zu denken. Er war schon oft mit ihrem Vater deswegen aneinandergeraten und musste schon zweimal fast seine Wohnung räumen, bevor er dank einer großzügigen Unterstützung seiner Freunde die Miete doch noch bezahlen konnte.
Früher hätte Emilie ihn einfach rausgeschmissen. Sie hätte in ihm den klassischen Verlierer gesehen, der nichts an Geld abwirft und sich einen Mieter gesucht, der seine Miete auch bezahlen konnte.
Doch seit kurzem war ihr das nicht mehr möglich. Sie dachte darüber nach, was für ein Mensch dieser Kerl wohl war. Ein Mensch, der selbst kaum genug hatte um sich ein Dach über dem Kopf zu leisten und dennoch den Kindern auf der Straße Brot schenkte, oder einer einsamen Witwe einen Nachlass auf Perlenschmuck gab der sie an ihren Gatten erinnerte. Ein Mann, der selbst kaum etwas erwirtschaftete, aber genug Freunde hatte, die ihm immer wieder knapp aus der Patsche halfen.
Sie sah in ihm nicht mehr länger nur einen Mieter. Eine Zahl auf einer Bilanz. Etwas war anders geworden. Sie sah in ihm einen Menschen mit Herz. Zu gutmütig um an sich selbst zu denken. Jemand, der andere zum Essen einlud, aber daheim auf dem Boden schlief. Sie musste leicht schmunzeln als sie dachte, dass Defiann vermutlich ähnlich handeln würde. Und sie würde Defiann niemals aus seinen vier Wänden vertreiben wollen.
"Hört, gnä' Frau, ich zahle alles zurück! Mit Zinsen! Versprochen! Nur im Moment ist es eben gerade schlecht, aber es kommen wieder bessere Zeiten, und da..."
Emilie hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen, bevor er begann zu flehen.
"Herr Winkler. Lieferengpässe sind nicht das Problem, das wisst Ihr genausogut wie ich. Ihr habt ein ganz anderes Problem, ein Problem das dem Profit und dem Ertragreichtum Eures Geschäftes in die Quere kommt. Ihr habt ein Herz."
Verstört blickte der Mann sie nun an. Darauf wusste er keine Antwort. Darauf war er nicht vorbereitet. Er schluckte hörbar einen Kloß herunter und fürchtete scheinbar um sein trautes Heim.
"Und keine Sorge. Ich bin nicht mein Vater." fügte Emilie in beruhigendem Ton hintenan. "Ich habe nicht vor, jemanden, der sich mehr um seine Familie und seine Mitmenschen sorgt, als um den Profit, aus seinem Haus vertreiben."
Der Blick des Mannes wurde immer ungläubiger. Die Sache musste doch einen Haken haben?
"Doch ich schätze Ehrlichkeit. Wenn Ihr nicht zahlen könnt, weil Ihr Fräullein Madeleine Salz und Gewürz unter dem Ladentisch zuschiebt damit sie nicht nur faden Brei essen muss, dann sagt mir das, und erfindet nicht irgendwelche Ausreden, in Ordnung?"
"J... Ja, gnä' Frau." Er konnte es immernoch nicht fassen was er da hörte.
"Gut. Ich erlasse Euch Eure Zinsen, Ihr werdet sie ohnehin nicht zahlen können. Zahlt das, was Ihr zahlen könnt ohne dass Eure Familie hungern muss. Und wenn Ihr von jetzt an ehrlich zu mir seid, finden für den Rest eine Lösung. Einverstanden?"
Er nickte eilig. "Jawohl, gnä' Frau!"
"Gut. Geht heim, kümmert Euch um Eure Familie und sorgt in aller Ruhe dafür, dass Euer Geschäft wieder auf die Beine kommt. Und wenn tatsächlich wieder bessere Zeiten anbrechen, reden wir darüber, wie Ihr die Schulden abbezahlen könnt."
"Jawohl, gnä' Frau. Vielen Dank, gnä' Frau." Er sah glücklich aus. Emilie hatte ihm gegeben was er scheinbar dringend brauchte: Eine Chance.
"Da wäre nur noch eine Kleinigkeit." fügte sie an, als Herr Winkler bereits im Begriff war aufzustehen. Die Freude wich schlagartig aus seinem Gesicht und er sah sie an wie ein Reh eine herannahende Minotaurenherde. Da war er wohl. Der Haken.
"An Eurer Haustür stand, dass Eure Hündin Junge geworfen hätte, die bereit wären abgegeben zu werden."
Der Mann schluckte. Waren Tiere im Haus etwa verboten? Stand das so im Mietvertrag? Hatte er einen Fehler gemacht? Vorsichtig antwortete er mit einem leisen "Jaa...?"
"Wenn das in Ordnung ist, würde ich mir gerne die Welpen einmal anschauen. Ich spiele schon länger mit dem Gedanken, mir ein Haustier zuzulegen. So ein Hund bringt vielleicht etwas Leben in mein Heim."
"Oh, gnä' Frau, erwartet nicht zu viel, es ist nichts reinrassiges, Bessi ist eine Promenadenmischung, sicher sind ihre Welpen nichts für ein so edles Haus." meinte er, wohl um bescheiden zu klingen.
"Die Entscheidung, was ich in mein Haus lasse und was nicht, könnt Ihr ruhig mir überlassen." entgegnete Emilie bestimmend.
Herr Winkler wurde blass. "N.. Natürlich, gnä' Frau. Ich wollte nicht...."
"Schon gut. Wäre morgen Mittag recht?"
"Natürlich, gnä' Frau."
Emilie nickte gen Sebastian. Wohl ein Zeichen, dass Herr Winkler gehen möchte. Oder eine Bestätigung des Termins. Wahrscheinlich beides.
"Gut, dann sehen wir uns morgen, Herr Winkler. Sebastian geleitet Euch hinaus."
Emilie beobachtete Sebastian, wie er freundlich den Herrn zur Tür schob, der aus dem "Sehr erfreut gnä' Frau" und "Vielen Dank, gnä' Frau" gar nicht mehr herauskam. Sie musste schmunzeln. So fühlte es sich wohl an, wenn man einem guten Menschen etwas Gutes tat? Vielleicht war es doch nicht so schlecht, nett zu sein. Vielleicht.
Sebastian schloss die Tür und drehte sich erhobener Augenbraue zu Emilie herum. Emilie hörte auf zu schmunzeln, starrte Sebastian ertappt an. Dann hob sie wie beiläufig die Schulter und verdrehte gespielt die Augen, ein abfälliges "Pff, so ein Schnorrer..." entweichen lassend.
Sebastian, der sie aber längst durchschaut hatte, rang sich selbst ein leichtes Heben des Mundwinkels ab, was bei ihm wohl das Höchstmaß an Gefühlsausdruck im Dienst war, und räumte den Tee ab, meinte dabei in sanftem Ton:
"So langsam ist Eure Anrede nicht mehr bloße Höflichkeit, Milady."
Es passierte nicht oft dass sich Sebastian einen scherzhaften Kommentar erlaubte.
Emilie musste darüber lächeln.
~
Gegen Mittag des Folgetages stand Emilie vor der Wohnungstür, östliche Marktgasse, Haus 14 Wohnung 9b. Das Türschild war ein unförmiges Gebilde aus gebranntem Ton, an dem wohl Kinderhände aus Tonwürstchen den Schriftzug "Winkler" geformt und das ganze nach dem Brennen dann bunt glasiert hatten. Kein Vergleich zu den Silberlettern an Emilie's Eingang was Kunstfertigkeit und Präzision anbelangte, aber Emilie konnte förmlich die kleinen patschigen Finger von Kindern sehen, vollgeschmaddert mit Tonresten, die dieses Türschild geformt hatten. Kinder, die wahrscheinlich froh darüber waren, nur "Winkler" aus Ton formen zu müssen, und nicht einen längeren Namen wie "Müller-Lüdenscheidt".
Sie blinzelte über diese Gedanken.
Sicher, die silbernen Buchstaben an ihrem eigenen Türschild waren hübsch anzusehen. Doch sie waren so präzise geformt, als wären sie gestanzt (was vermutlich auch der Wahrheit entsprach). Sie verrieten nichts darüber, wer sie hergestellt hatte. Oder wie. Und was er dabei empfand.
Dieses Türschild hier aber verriet so einiges. Es erzählte eine Geschichte. Fast so, als hätte es eine Seele. Und war es nicht genau das, was Kunst ausmachte? Emilie fuhr sacht mit den Fingern die Ränder des Tonschriftzuges nach. Konnte es sein, dass dieses einfache Tonschild größere Kunst war, als all jene technisch perfekten aber seelenlosen Stillleben, die die Wände von Emilie's Wohnzimmer zierten?
Und schon sah sie in diesem Türschild all die Unterschiede zwischen dem Leben der Winklers und ihrem eigenen. Als Symbol für alles, was in ihrem Leben gefehlt hatte. Ihr Leben war kalt, steril, von außen wunderschön aber im Inneren irgendwie leer. So wie ihre perfekt ausgestanzten Silberlettern. In Form gepresst, auf Hochglanz poliert und präsentiert.
Dagegen war das der Winklers einfacher, schlicht, mit vielen ungeraden Ecken und Kanten, mal dicker, mal dünner und vielleicht nicht das hübscheste was man je gesehen hatte, aber es war von Liebe und Leben erfüllt.
Emilie schüttelte leicht den Kopf. Wie lange hatte sie jetzt vor der Wohnungstür gestanden und dieses Schild begutachtet? Minuten? Was genau wollte sie eigentlich hier?
"Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt um in Melancholie zu versinken, Emilie." murmelte sie, wie ein Befehl an sich selbst. Sie warf ihr Haar leicht nach hinten, rückte ihre Weste ein wenig zurecht und korrigierte ihre Haltung. Dann hob sie die Hand und klopfte. Was von drinnen von einem entfernten "Räff!" kommentiert wurde. Sie hörte eine Kinderstimme. "Ruhig, Bessi!"
Wenig später machte eine Frau die Tür auf. Sie war vielleicht Ende 30, mit Haar das sich scheinbar nicht entscheiden konnte ob es nun dunkelblond oder hellbraun sein wollte. Strähnen standen hier und da ab und weigerten sich, sich zu den anderen in den lockeren Pferdeschwanz zu gesellen. Ihre Augen waren bräunlich, vielleicht mit ein paar grünlichen Glanzpunkten und die Winkel zeigten bereits leichte Krähenfüße. Ihre Figur war leicht birnenförmig: Schmale Schultern, schmale Brust, breite Hüften. Das ganze wurde von einem schlichten blassblauen Kleid mit Blümchenmuster und einer Schürze umhüllt. Sie war die Art Frau der Emilie auf der Straße normalerweise keines Blickes würdigen würde. Und doch, jetzt wo sie direkt vor ihr stand, fand Emilie dass sie doch etwas Schönes an sich hatte. Keine Oberflächliche Schönheit, eher etwas das tiefer ging. Sie wirkte auch nicht so nervös wie ihr Mann gestern, stattdessen vollführte sie einen leichten Knicks und lächelte ihr freundlich entgegen.
"Edle Dame, einen schönen Tag. Bitte, kommt doch herein." sagte sie in einer einladenden Geste, und während Emilie der Einladung folgte, sprach sie im selben freundlichen Ton weiter, bevor sie im gleichen Atemzug einen Befehl bellte. "Verzeiht bitte die Unordnung - Jimmy, räum endlich dein Spielzeug aus dem Flur!"
Ein Junge von vielleicht 8 oder 9 kam angerannt, schnappte sich einen schon recht ramponierten Holzwagen (der wohl einen Charrpanzer darstellen sollte) und ein paar Holzfiguren, bevor er zu Emilie aufsah. Sein sommersprossiges Gesicht grinste. Ihm fehlten die vorderen Milch-Schneidezähne und Schnodder lief ihm aus der Nase. "Rotzbengel" war der erste Begriff, der Emilie auf der Zunge lag. Aber sie konnte nicht anders, als das zahnlose Grinsen des Knaben mit einem Lächeln zu erwidern. Er kicherte schüchtern und rannte mit seinem Spielzeug wieder weg, was von seiner Mutter mit einem "In der Wohnung wird nicht gerannt!" kommentiert wurde.
"Süßer Junge." meinte Emilie. Auch wenn sie vermutete dass er vermutlich nur solange süß war, bis er mit seiner Zwille das Hinterteil seiner Mutter ins Visier nahm.
"Jaa.." antwortete seine Mutter langgezogen, und Emilie konnte an ihrem Blick spüren dass diese einen ähnlichen Gedanken hatte.
Sie führe Emilie ins Wohnzimmer.
Emilie blickte sich kurz um und erkannte sofort, was hier gemacht wurde. Das Wohnzimmer wirkte aufgeräumt und sauber, der Tisch war mit einem Spitzendeckchen bedeckt, eine Teekanne und feines Tafelsilber lagen bereit, neben wohl selbstgebackenen Keksen. Die Türen zu den anderen Zimmern waren alle verschlossen. Vermutlich kämen ihr Berge an Unordnung entgegen, die in der Eile für den Edlen Besuch schnell aus dem Blickfeld geschafft wurden, hätte sie eine davon geöffnet. Sie konnte sich denken dass das Deckchen und das Silber sonst nur an Feiertagen herausgeholt wurde. Man wollte offenbar einen guten Eindruck auf sie machen.
Sie lächelte und meinte "Schön haben Sie's hier.", um den Aufwand entsprechend zu würdigen, und ging zum Tisch. Herr Winkler erhob sich und sie setzte sich auf den Platz den man ihr anbot. Frau Winkler goss ihr Tee ein bevor sie sich auf den Platz neben ihr setzte. Und während Herr Winkler mit den Worten "Dann hole ich mal die Kleinen" im Nebenzimmer verschwand versuchte sich Frau Winkler wohl an einer Unterhaltung. Sie schien erneut die Nervosität ihres Mannes missen zu lassen, der jetzt auch wieder nervös wirkte. Vermutlich war sie es, die in der Beziehung die Hosen anhatte. Insgeheim fragte sich Emilie, ob Herr Winkler wirklich Angst vor Emilie hatte... oder vor der Reaktion seiner Gattin, wenn er es vermasseln sollte.
"Ich kann Euch gar nicht genug danken, Milady, dass Ihr so großzügig seid und uns einen Aufschub gewährt, bis wir wieder festen Boden unter den Füßen haben. Ich versichere Euch, Ihr werdet es nicht bereuen."
"Oh, da bin ich mir sehr sicher, Frau Winkler." meinte Emilie lächelnd. Ja, da war sie sich sicher. So wie diese Frau es gesagt hatte, war eindeutig, dass sie schon dafür sorgen würde, dass ihr Mann sich an die Vereinbarung hielt.
"Ach bitte, nennt mich doch Emma."
"Emilie." bot Emilie an. Ja, diese Frau hatte definitiv die Hosen an.
"Überaus erfreut! Habt Ihr schon Erfahrungen mit Hunden, Emilie?" fragte Emma, während Emilie einen Schluck Tee nahm. Er schmeckte zeitgleich zu stark und zu überzuckert und machte Emilie gleich ein wenig wacher.
"Nein, leider nicht. Mein Vater war immer gegen Haustiere."
"Ah, verstehe. Nun, die Welpen sind leider noch nicht stubenrein, muss ich dazusagen."
Emilie nickte. "Das hab ich schon fast gedacht. Aber keine unlösbare Aufgabe."
Dem Hund beizubringen dass es falsch war, den Teppichboden als Klosett zu benutzen, war dabei sicher nicht der schwierigste Teil. Der schwierigste Teil war wahrscheinlich viel mehr, Marla dazu zu bringen den Unrat erst wegzumachen wenn sie dem kleinen gezeigt hatte dass das falsch war. Ein Hund dessen Dreck schneller weggemacht wurde als er ihn produzieren konnte wurde ganz sicher nicht stubenrein.
"Nun, falls Ihr Fragen zur Erziehung habt, könnt Ihr Euch natürlich jederzeit an uns wenden, Emilie. Unsere Bessi hört aufs Wort."
"Gut zu wissen, Emma. Ich werde daran denken wenn ich nicht weiterweiß."
"Ach, wo bleibt denn nur Mark?" damit meinte sie ihren Mann. "Schatz? Wo bleibst du?!" rief sie gen Nebenzimmer.
Kurz darauf ging aber auch schon die Tür auf, und Mark Winkler kam mit einer Orangenkiste voller Pelzknäuel aus dem Nebenzimmer. In der Kiste wuselte es und leise, angesetzte Bellgeräusche waren zu hören, sowie ein Fiepsen.
"Schon da, hatte nur einen kleinen Ausreißer der sich unters Bett verkrochen hat." meinte Mark fröhlich, die Hände voller pelziger Wonneproppen hatte er offenbar auch ganz seine Nervosität vergessen. Er trug die Kiste zu Emilie und sie nahm sie vorsichtig auf den Schoß, blickte hinein. Fünf bunte Welpen, keiner größer als eine Hauskatze, waren darin. Sie hatten fleckiges Fell, weiß mit braunen und schwarzen Flecken, lange Schlappohren, große braune Augen und die süßesten feuchten Stubbsnasen die Emilie je gesehen hatte.
"Drei Männchen, zwei Weibchen." sagte Mark erläuternd, während er eines der Welpen (wohl der Ausreißer) immer wieder in die Kiste zurückschob. Der wollte offenbar lieber seine Umgebung erkunden, als bei seinen Brüdern und Schwestern in der Kiste zu sitzen. "Sie essen schon festes Futter und haben die erste Impfung und Wurmkur hinter sich. Sind alle gesund und munter, Ihr könnt also gleich einen mitnehmen, wenn Euch einer gefällt."
Emilie nickte lächelnd und betrachtete die kleinen Welpen. Ihr Herz fühlte sich gerade irgendwie genauso klein, pelzig und warm an wie diese Tierchen. Für einen entscheiden. Wie bei Lyssa sollte man sich für einen entscheiden?
Sie wusste nur, den Ausreißer würde sie nicht nehmen. Frech war zwar in Ordnung, aber sie hatte eigentlich am meisten Angst davor, dass sie das Tier liebgewinnen und es dann irgendwann davonlaufen und nicht mehr wiederkehren würde. So wie der Rest ihrer Familie.
Sie ging mit dem Gesicht näher an die Kiste und musterte die Welpen genauer. Sollte sie den mit dem braunen Ring am Auge nehmen? Oder den mit dem Knick im Schwanz? Den mit den braunen Schlappohren? Mhhh.
Sollte sie überhaupt einen nehmen? Sie waren ja alle niedlich, aber konnte sie überhaupt die Verantwortung für einen übernehmen?
Zweifel kamen in ihr auf. Was, wenn sie etwas falsch machte? Was, wenn etwas passierte? Sollte sie so ein Tier wirklich an sich heranlassen? Illusionen waren zwar nicht echt, aber sie konnten auch nicht wirklich sterben oder davonlaufen. Ein echtes Tier konnte das schon. Und sie war sich nicht sicher, ob sie das würde ertragen können. Was wenn...
Sie wurde jäh aus ihren Selbstzweifeln gerissen als eines der Welpen den Kopf hob, die Pfötchen auf den Kistenrand stellte und sie direkt ansah. Sie blinzelte. Im ersten Moment sah sie die braunen Augen des kleinen Wesens. Dann die schwarze, feuchte Nase. Dann sah sie etwas rosafarbenes, und bevor sie reagieren konnte klebte etwas feuchtes, raues, warmes an ihrer Nase. Sie schloss die Augen als der Welpe ihr das Gesicht abschleckte.
Emma und Mark hielten den Atem an. Eines ihrer "dreckigen Promenadenwelpen" schleckte grad mit seiner Zunge durch das Gesicht einer Edlen von Götterfels, einer Adligen, und obendrein auch noch ihrer Vermieterin. War das nun der Faux Pas der diese Person die Güte wieder vergessen ließ?
Emilie fing an, vergnügt zu lachen. Nein, sie kicherte eher wie ein kleines Mädchen. Die Situation war anders, als Emma und Mark sie befürchtet hatten. Es war kein Drecksköter, der das Gesicht einer Adligen vollsabberte. Es war ein süßer Welpe, der das Gesicht eines kleinen Mädchens abschleckte. Erleichtert und mit einem zufriedenen Lächeln legte Mark den Arm um seine Frau. Und erst jetzt schien beiden bewusst zu werden, wie jung Emilie eigentlich noch war.
Und Emilie wurde bewusst, dass sie sich nicht für einen Welpen würde entscheiden müssen. Denn dieser Welpe hatte sich für sie entschieden.
Sie ließ das Geschlecke noch einen Moment über sich ergehen, zog dann kichernd das Gesicht zurück und hob den mahnenden Zeigefinger vor die Nase des Welpen. Kichernd und daher nicht wirklich ernst im Tofall sagte sie "Aus." Dem Welpen schien das Spiel zu gefallen, der patschte mit der Pfote nach der Hand und knabberte an dem erhobenen Zeigefinger. Es tat nicht weh, die Zähnchen waren zwar spitz, aber er spielte nur. Emilie blickte zu Emma und Mark auf, lächelte.
"Wies aussieht hab ich mich entschieden. Der soll es sein."
"Die." korrigierte Mark lächelnd. "Das ist ein Weibchen."
"Gut, dann sie."
Mark Winkler nickte, nahm Emilie dann die Kiste wieder vom Schoß und reichte ihr dann den Welpen. Sie nahm ihn in auf die Hände. Er war ganz warm und weich und als sie ihn auf dem Schoß bettete drehte er sich vergnügt auf den Rücken, die Pfoten nach ihren Händen streckend. "Jetzt braucht sie nur noch einen Namen." hörte sie Emma sagen.
Emilie spielte ein wenig mit der kleinen und überlegte. Sie sah auf der Brust des Welpen eine Fellzeichnung, ein schwarzer Fleck auf dem weißen Fell, der wie ein Halbmond geformt war. Sie überlegte einen Moment. "Luna" war ihr zu offensichtlich. Und zu unpersönlich. Dann fiel ihr ihre Lieblings-Kindergeschichte wieder ein, die Abenteuer der Fee Windspiel im Zauberwald. Und der Name der Morgentausammlerin, deren Name in der Feensprache soviel wie "Die im Mondlicht tanzt" bedeutete.
Sie lächelte und verkündete den Namen ihrer neuen Hündin:
"Ayla."