SPOILERWARNUNG!
Die verlorenen Seiten der Chronik von Dara Bentlin enthalten vertrauliche, geheime und hintergründige Informationen über Heather Quinn, ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart. Diese Informationen sind nur Heather persönlich bekannt (und evtl. in den Passagen erwähnten Personen) oder völlig unbekannt, oder Geheimnisse, die Heather eher mit ins Grab nehmen würde, als sie jemandem zu erzählen. Es sind Geheimnisse, die vielleicht gelüftet werden, aber auf jeden Fall enthalten sie schweres Meta-Wissen über Heather und ihre Beweggründe. Ich überlasse es jedem selbst, ob er die folgenden Zeilen liest und wie er damit umgeht, unter Umständen verdirbt er sich damit aber die ein oder andere Überraschung.
Weiterlesen daher auf eigene Gefahr!
Sagt nicht ich hätte euch nicht gewarnt!
SPOILERWARNUNG!
[align=center]Die Verlorenen Seiten - Das Vigor Mortis
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Priester Douglas Kerrington lächelte sacht als er die schlurfenden Schritte hörte, die sich ihm näherten, begleitet von dem leisen Schniefen, das er sofort erkannte. "Du kommst ein wenig spät, Dara." meinte er und drehte sich zu dem Mädchen um, welches den Grenth-Schrein betreten hatte. Wieder unterzog er sie einer genauen Musterung. Sie war ein erbärmliches kleines Ding. Ihre Haut war blass, fast weiß, die Haare rabenschwarz. Sie sah leicht kränklich aus, mit laufender Nase, unterlaufenen Augen und dem dürren Leib, der von Hunger und den schlechten Zuständen im Waisenhaus ausgezehrt war. Und dann diese Augen. Zwei funkelnde Amethyste, so tief und voller Kummer, und doch funkelte in ihnen ein kleines Licht, das er noch nicht recht zuzuordnen vermochte.
Douglas war sich ziemlich sicher dass in ihr der Segen Grenth' schlummerte. Dass sie die Nekromantie beherrschte war ein weiteres Zeichen. Und sie war sehr begabt und wissbegierig, die Magie schien das einzige zu sein was ihr ein wenig Enthusiasmus abringen konnte. Wenn man bedenkt, was mit ihrer Familie geschehen war, war es jedoch ein Segen zu wissen, dass überhaupt noch etwas vermochte, diese kleine, zersprungene Porzellanpuppe zum Lächeln zu bringen.
"Wurde aufgehalt'n." murmelte Dara leise. Ihre Stimme war rau von dem Husten der sie schon eine Weile plagte.
"Gina." schlussfolgerte Douglas. Die blauen Flecken auf den Schultern des Mädchens sprachen Bände. "Setz dich. Ich werde dir zeigen wie man sich um solche Wunden kümmern kann."
"Priester?" fragte Dara vorsichtig.
"Ja, mein Kind?"
Dara sah sich vorsichtig um, kam etwas näher und raunte: "Was wisst Ihr .. über das Vigor Mortis?"
Der Priester hob die Brauen und zog überrascht den Kopf zurück.
Dann zog er die Brauen wieder zusammen. "Woher hast du das? Nein... spar es dir. Ich bereue es schon dir Zugang zur Bibliothek verschafft zu haben. Das ist nichts für dich, Dara."
"Aber... es heißt damit könnte man stärker werden. Mehr Lebenskraft bekommen. Kräftig, gesund und immun gegen fast alle Krankheiten. Seht mich doch mal an... wenn DAS nichts für mich ist..."
"Nein, Dara." sagte der Priester scharf. "Das Vigor Mortis stärkt den Zauberer, ja. Aber auf Kosten eines anderen. Die Lebenskraft die du dazu erhältst wird von der Lebenszeit eines anderen genommen. Dieses Ritual ist nicht ohne Grund aus dem Repertoire gestrichen worden. Zu oft wurde seine Kraft missbraucht. Auch wenn es damals, als die Magie noch nicht getrennt war, leichter war jemanden mit Mesmerzaubern dazu zu bringen, bereitwillig sein Leben zu geben, so ist es auch heute noch gefährlich. Du wirst die Finger davon lassen."
"Aber..."
"Nein. Selbst wenn du das Ritual anwenden könntest. Der jenige muss seine Lebenskraft freiwillig hergeben um dich zu stärken. Und ich denke nicht dass es jemanden geben würde der sowas freiwillig macht."
"Aber was ist mit mir?" hakte Dara nach. Der Priester war kurz davor die Diskussion harsch zu beenden, doch über den Vorschlag runzelte er abermals die Stirn.
"Mit dir? Was meinst du?"
"Nunja, jemand opfert seine Lebenszeit dafür mich zu stärken, richtig? Was ist, wenn ich selbst das Opfer bringe?"
Der Priester grübelte einen Moment. Die Idee war so abwegig, dass etwas wahres dran sein könnte.
"Im Prinzip also Zeit... gegen Kraft tauschen? Mhh... das wäre theoretisch möglich. Allerdings würde dein Lebenslicht dann brennen wie eine Kerze die an beiden Enden angezündet wurde. Das kann ich nicht gutheißen."
"Aber die Magie würde mir ein normales Leben ermöglichen. Wenn auch nur ein kurzes. Ich will nicht mein Leben lang auf andere angewiesen sein, und auf Gnade und Medizin hoffen! Lieber sterbe ich früher, wenn ich dafür bis dahin unabhängig und stark sein kann!"
"Das Ritual würde dich verändern. Deinen Körper mit nekrotischen Energien durchziehen. Zwischen dem, der opfert und dem, der empfängt, entsteht eine starke Bindung. Grenth allein weiß, welche Auswirkungen das auf dich hat, wenn du diese Bindung mit dir selbst vollziehst, gesetzt den Fall es ist möglich. Nein Dara, es ist zu gefährlich. Zu viele Risiken. Und jetzt genug davon. Schlag dein Buch auf, Seite 19."
Der Priester nahm Platz und bedachte Dara mit einem gestrengen Blick, der klar machte, dass er keine weitere Diskussion über dieses Thema dulden würde.
Dara senkte den Blick. Aber sie hatte nicht vor, auf den Priester zu hören.
Heute Nacht würde sie das Ritual vollziehen.
[align=center]Die Verlorenen Seiten - Das Vigor Mortis, Teil 2
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"Ah, Dara, gut dass du kommst." Doglas lächelte gütig. Er bot dem Mädchen einen Sitzplatz an. "Du siehst heute schon besser aus. Siehst du, es geht auch ohne uralte Rituale."
Er hatte Recht. Dara sah heute morgen schon besser aus, die Haut nicht mehr ganz so blass, die unterlaufenen Augen waren auch verschwunden. Sie sah aus als hätte sie endlich eine Nacht richtig durchgeschlafen.
"Mh.. ja, also, was das anbelangt..." begann Dara, doch Priester Kerrington unterbrach sie.
"Nein, sprich nicht weiter. Ich war gestern ein wenig streng zu dir. Das war nicht angebracht, du meinst es ja gut und bist nur neugierig. Und ich dachte mir, ich versuche dir lieber beizubringen, warum das Ritual so gefährlich ist und du die Finger davon lassen solltest. Wenn du es verstehst, wirst du wissen, warum ich so hart zu dir war."
Er setzte sich ihr gegenüber und lächelte sie auf eine väterliche Art und Weise an. Dann begann er zu erzählen.
"Das Vigor Mortis ist nur eine von zahlreichen Ausprägungen finsterster Nekromantie, zu denen man nur in den verzweifelsten aller Zeiten greifen sollte. Für sich genommen wirkt es wie jene Blutzauber, die Lebensenergie von anderen auf den Anwender überträgt. Dass das Opfer in diesem Fall freiwillig sein muss, basiert darauf, dass die Übertragung ungleich mächtiger ist. Ich habe ein wenig recherchiert. Es überträgt nicht nur Lebenszeit. Es etabliert eine enge Verbindung zwischen Opfer und Anwender und bindet die Lebenskraft des Anwenders an die des Opfers. Soll heißen, der Anwender lebt, solange das Opfer lebt. Verletzungen und Wunden des einen bekommt der andere zu spüren. In der Frühzeit gab es nekromantische Schamanenpärchen die dieses Ritual vollzogen, jeweils mit dem anderen und konnten dadurch nur besiegt werden, wenn beide gleichzeitig getötet wurden. Du kannst dir denken, worauf das ganze hinausläuft hm?"
Der Priester sah Dara forschend an. Diese runzelte nur die Stirn. Er half ihr auf die Sprünge: "Nekromanten die ihre Lebenskraft an etwas anderes banden und nur getötet werden konnten wenn man dieses etwas zerstörte? Kommt dir das bekannt vor?"
Dara weitete die Augen.
"Lich..."
"Ganz richtig." bestätigte der Priester. "Das Vigor Mortis ist sowas wie eine Urform des Phylakteriums. Erst sehr viel später gab es jene die es schafften, die Lebenkraft an einen Gegenstand zu heften."
Dara sah zur Seite weg. Sie wirkte grüblerisch.
"Du meintest gestern, was wohl passiert, wenn man das Ritual an sich selbst anwendet. Seine Lebenskraft an sich selbst verknüpft. Nun, tatsächlich ist es so ähnlich wie ich es sagte. Es ist als zünde man eine Kerze an beiden Enden an. Sicher, sie brennt heller und ist schwerer zu löschen. Aber das Wachs ist schneller verbraucht. Und das ist noch nicht alles."
Sie sah wieder zu ihm. Noch nicht alles. Sie war ganz Ohr.
"Normalerweise stellt das Ritual wie ich sagte eine tiefe Verbindung zwischen den Anwendern her, die mit mächtiger nekrotischer Energie aufrecht erhalten wird. Stell es dir wie ein Spinnennetz vor das zwischen den beiden Personen gewebt wird. Vollziehst du das Ritual jedoch alleine, hat das Netz keinen zweiten Ansatzpunkt. Die nekrotische Energie würde in dir zirkulieren wie dein Blut. Und versuchen Verbindungen herzustellen, von denen sie Lebensenergie abzapfen kann. Dabei würde es den Weg des geringsten Widerstands gehen. Man müsste also schon deine Adern öffnen um heranzukommen. Aber ein Hautkontakt zu deinem Blut würde schon reichen um ein feines Netz aus nekrotischer Energie zu weben, die dem armen Teufel das Leben aussaugt. Stell dir vor du wirst verletzt, jemand eilt dir zu Hilfe, berührt dich und fällt prompt der Energie zum Opfer. Das wäre fatal."
"Aber wenn mir dann jemand wehtut, würde er sich selbst auch damit schaden. Ich meine, wenn er mich blutig schlägt oder so." Dara dachte sofort an Gina.
"Möglich. Aber die Energie würde nur sehr langsam übertragen werden. Und mit jedem Mal, wo du durch dein Blut Lebensenergie von anderen in dich aufnimmst, würde mehr Energie in dir zirkulieren was zu noch schnellerer Wirkung beiträgt. Und dich immer mehr und mehr von der Sterblichkeit entfernt. Es ist ein zweischneidiges Schwert."
"Das heißt mit der Zeit würde ich zu einem Monster werden...?" fragte Dara verunsichert. Je mehr Energien sie in sich aufnehmen würde, desto mehr würde sie brauchen, und desto mehr würde sie sich verändern.
Douglas nickte nur stumm. "Gut möglich. Was genau passiert kann ich nicht sagen, da alles nur graue Theorie ist, aber die Gefahr besteht. Und Tyria braucht wahrlich keinen zweiten Palawa Joko."
"Ich will kein Lich werden..." murrte Dara kleinlaut.
"Dann solltest du das Vigor Mortis schnellstmöglich vergessen. Ich habe die Aufzeichnungen darüber sicherheitshalber in Verwahrung gegeben, und deine Abschriften muss ich dir leider auch abnehmen. Versprich mir, dass du dieses Ritual niemals vollendest."
Douglas sah Dara eindringlich an. Doch sie wich dem Blick aus, schaute beschämt drein. Er kannte diesen Blick von ihr. Und es verhieß nichts gutes.
" ... es sei denn natürlich... es ist bereits zu spät."
Dara zog den Kopf ein. Also stimmte es. Sie hatte das Ritual bereits vollzogen. Der Blick des Priesters verhärtete sich. Sie hatte seine Anweisungen missachtet, und schlimmer noch, ein uraltes Ritual ohne Erlaubnis oder Beistand durchgeführt.
"Raus." sagte er kalt.
Dara hob den Kopf und blinzelte ihn an.
"Na los. Geh. Verschwinde, während ich mir überlege, was wir jetzt mit dir anstellen."
"Aber ich..."
"Du wirst zurück ins Waisenhaus gehen, dort wirst du bleiben und warten, bis wir im Kollegium eine Entscheidung getroffen haben. Ich muss mich mit den anderen Priestern beraten. Du rührst dich nicht vom Fleck bis wir entscheiden, was geschieht. Und diesmal wirst du dich an meine Anweisungen halten, sonst haben wir ein ernsthaftes Problem. Verstanden, Dara?"
Sein Tonfall war unnachgiebig.
"J-Ja.." stammelte Dara und verließ den Schrein.
Dara hatte Angst. Sie wollte kein Monster werden. So hatte sie das nicht geplant. Sie dachte an den Fleischgolem, und mahlte sich noch viel schlimmere Dinge aus, die aus ihr werden könnten. Sie plante, sich diesmal an die Anweisung zu halten, und bereitwillig alles zu ertragen, was die Priester für richtig erachteten.
Zu dumm, dass Gina und ihre Bande nichts davon wussten. Und selbst wenn sie es gewusst hätten, hätte es sie nicht davon abgehalten, Dara an diesem Abend zu triezen, schlimmer als je zuvor.
An jenem Abend sollten sie sie das letzte Mal geärgert haben.
Und es war auch der letzte Abend, an dem man im Waisenhaus oder im Grenthschrein etwas von Dara Bentlin hörte.