Tränen einer Mutter - Kapitel I

(I)
Wohlbehütet


Es ist eine milde klare Nacht in Götterfels. Der silbrige Schein des Mondes spiegelt sich in den vielen kleinen Fenstern der Häuser wider und taucht die ganze Stadt in ein unwirklich glänzendes Gewand. Nur noch vereinzelt streifen betrunkene Heimkehrer und jene, die dem nicht ganz so ehrlichen Gewerbe nachgehen, durch die sonst leergefegten Gassen, den Nachtwachen gleichermaßen ausweichend. In einem hochgelegenen Adelsviertel durchdringt bloß das rhythmische Klopfen eines vom Wind umspielten nicht geschlossenen Fensters die anmutige Stille der Nacht. Zaghaft flackert Kerzenlicht im Inneren durch den auf- und abschwellenden Luftzug. An der Fassade bewegt sich in fließenden Bewegungen kaum merklich ein grünlich-schwarzer Schatten in Richtung der vielversprechenden Einstiegsmöglichkeit. Ein erneutes Klopfen des Fensters bleibt aus, als sich eine weibliche Silhouette auf dem Sims abzeichnet. Die vollkommene Stille wird selbst durch das Ziehen eines Wurfdolches nicht unterbrochen. Erst das Spannen des Schlaghammers einer Pistole lässt die flüssigen und geräuschlosen Bewegungen der Attentäterin abrupt stoppen. "Ihr seid zu spät. Sie ist nicht mehr hier," erklingt eine tiefe aber sanfte Männerstimme aus dem Inneren des Raumes. Die Attentäterin verharrt ruhig in ihrer Position im Fenster, lediglich die unverhüllten Augen ziehen sich leicht zusammen. "So schweigsam," unterbricht der Mann die wiederaufkeimende Stille, "immerhin schicken sie keine Anfänger mehr. Was eine Verschwendung." Der rechte Zeigefinger drückt langsam gegen den Abzug, verharrt aber, als ein langgezogenes quietschendes Geräusch das sehr zaghafte Öffnen der Zimmertür ankündigt. "Ich kann nicht schlafen, Papa," ertönt eine fiepsige, kindliche Stimme. Ein kaum mehr als fünf Sommer altes Mädchens mit wuscheligen roten Haaren steht mit schläfrigen Augen im Türrahmen. In der rechten Hand hält sie die Pfote eines offenbar vielgeliebten Teddys. "Geh wieder ins Bett, mein Engel. Papa kommt gleich zu-" Das leichte Surren eines durch die Luft schneidenden Wurfdolchs lässt die väterliche Stimme verklingen. Langsam sackt die Hand des Vaters zittrig gen Boden; die filigran gearbeitete, silbrig glänzende, doppelläufige krytanische Pistole gleitet aus seinen Händen und schlägt dumpf auf der Holzdiele auf, ohne dass sich der Schuss löst. "Papa?", ertönt nach einigen Momenten die zaghafte Stimme des Mädchens. "... Papa?", fragt sie erneut, nicht verstehend, was gerade geschehen ist. Sie lässt den Teddy fallen und schlurft langsam auf ihren regungslos in seinem Stuhl liegenden Vater zu. Ihre kleinen Hände umfassen die zuvor noch die Pistole haltende Hand des Vaters, die leblos über der Stuhllehne hängt. "Papa ... sag doch was ..." Das Mädchen zuckt zusammen, als das rhythmische Klopfen des Fensters erneut einsetzt. Mühsam kullert eine einsame Tränen über die Wange des Kindes, den Weg für die nachfolgenden bahnend.