Anderthalb Dutzend Kinder standen aufgereiht wie junge Soldaten. Es waren nur Jungen im Alter zwischen sieben und etwa dreizehn Jahren. Manchen zitterten die Finger oder die Unterlippe (den Jüngeren, vor allem), andere ließen sich ihre Aufregung nicht anmerken, und einer der Kleinsten suchte nach dem Blick der Frauen, die in Paaren zu je zwei Wartefrauen an den Rändern ihrer kleinen Linie standen. An ihnen vorbei zog ein großer Mann in einem hellblauen Samtmantel. Er hatte einen Schritt wie ein Offizier und eine Miene, als bilde er sich ein, dem Königshaus selbst vorzustehen. Immer, wenn er an einem Jungen vorübermarschierte (die Hände hatte er dabei viel zu steif hinter dem Rücken verschränkt), ging durch den, den er passierte, ein gespannter Ruck.
Hermes stand da wie ein Gefrorener, einer, dem das Leben und jeder Schrecken darin nichts mehr anhaben konnten, aber er gehörte zu denjenigen, deren Finger schütterten. Er war zwischen den Achtjährigen, den Blick hielt er stramm geradeaus und ohne Blinzeln, als der Mann in seiner Rüschenweste ihnen seine Stirn so weit entgegen beugte, dass er die Pomade in seinem Haar riechen konnte.
„Diesen hier nehme ich“, sagte er (seine Stimme war so gestriegelt wie der gesamte Rest von ihm), schnappte zurück wie ein Stehauf-Männchen mit ulkiger Frisur und stolzierte davon, kaum da er seinen Entschluss getroffen hatte, als hätte er gerade eine neue Chaiselongue erstanden und müsse jetzt nur warten, bis sie ihm nach Hause geliefert wurde. Eine der Frauen eilte herbei und Hermes sah, wie ihr fliegender Rock vor ihm den Wind verlor und abbauschte. Sie streckte den Arm aus, dabei war ihr Gesicht ein Bild von Güte und Langmut.
„Komm“, sagte sie und führte den Jungen neben Hermes fort. Es war ein für sein Alter großes und kräftiges Kind, wohlgewachsen, aber jetzt warf er unsichere Blicke um sich und hätte wohl mit jedem, der ihm sehnsüchtig nachsah, liebend gern getauscht. Die Erzieherinnen schickten die Jungen aus der Halle. Nicht alle Gesichter waren enttäuscht, die meisten ließen sich eigentlich gar keine Regung ablesen. Hermes sah auf seine Füße, als sie den anderen nicht folgten. Im selben Moment spürte er die Berührung zweier Hände weich gegen seine Schulterblätter drücken. Während sie ihn durch den Ausgang schob, hörte er die Bonne Erina sagen: „Beim nächsten Mal.“
Ohne zu antworten ließ er sich von ihr geleiten, wie man es von einem gehorsamen Jungen wie ihm erwartete.
Die meisten Arbeiterinnen des Kinderheimes mochten Hermes, weil er ihnen wie ein braver und vernünftiger Bursche vorkam. Das war kein Zufall, er gab sich stets Mühe, dass es dabei blieb; Pflegerinnen gegenüber verhielt er sich aufmerksam und schaffte es immer, einen jeden Menschen glauben zu lassen, er wäre ihm der liebste auf der Welt. Sein Talent, den Annahmen der Leute zu entsprechen, setzte er jederzeit ein, um die Erzieherinnen des Hauses, was ihn betraf, zuversichtlich zu stimmen. Sie hielten ihn in der Tat für folgsam, obwohl es in Wahrheit nicht viel brauchte, um ihn zu Unsinnigkeiten anzustiften. Es reichte, wenn ein anderes Kind ihm Feigheit unterstellte, schon hatte es seinen Ehrgeiz angesteckt, der dann brannte wie ein Zündholz, bis die Aufgabe, die er sich angeblich nicht traute, erledigt war. Er war leicht zu beeinflussen, denn er wollte bei den anderen dazugehören, und dass er sich immer unter die Älteren zu drängen versuchte, brachte ihm oft Prügel ein. Hatten sie genug an ihm herumgezogen, versprachen die härteren Waisen ihm meist einen Platz unter sich und gaben ihm die nächste Erledigung auf. Meistens war es der Befehl, Essen oder Geld zu stehlen, ab und an forderten sie auch sinnlose Streiche oder Mutproben, die dazu da waren, die gelangweilten Kinder zu unterhalten. Hermes war wie geschaffen dafür, sich in die Küche einzuschleichen oder Besuchern des Heimes unfreiwillige Spenden abzunehmen, denn er war ausgemergelt, überaus gewandt und außerordentlich kunstfertig im Erfassen und Beherrschen verwickelter Situationen. Er ließ sich nicht erwischen, aber wenn, dann berechnete er sich flink die glaubhafteste Geschichte seiner Unschuld. Sein Erfolg darin und dass er es, wenn auch ohne bösen Willen, fortwährend zu seinen eigenen Gunsten nutzte, war bestimmt einer der Hauptgründe für seine Unbeliebtheit.
Es bildeten sich schnell kleine Gruppen unter den Waisen, sobald sie aus Reih und Glied entlassen waren. Weil Hermes zu keiner davon gehörte, steuerte er irgendeine an. Das Heim zu Götterfels war völlig überlaufen, es gab beinahe mehr elternlose Kinder als Ratten, deshalb war es eigentlich ein Grund zur Freude, wann immer eines von ihnen in eine neue Familie geholt wurde. Als Hermes an den Bonnen vorbeikam, fiel ihm auf, dass diesmal keine von ihnen erleichtert war.