Die Geschichte von dem Jungen, der von einem Reichen adoptiert wurde, wärmte sich wie von selbst den gesamten Tag über wieder auf. Es kam selten genug vor, damit es abends im Schlafsaal noch immer interessant genug war. Hermes lag rücklings auf seiner Pritsche und belauschte das Gespräch einer Gruppe Rabauken im Winkel des Saales, die seine guten Vorsätze ihnen gegenüber nicht anerkannten und ihn nicht dabei haben wollten.
„Ich beneide Charlie nicht“, sagte einer von ihnen. „Das wird jetzt ein hartes Stück Brot für ihn zu beißen.“
„Von wegen“, sagte eine andere Stimme. „Wir essen hartes Brot. Er isst Braten. Das war ein Adeliger, der ihn mitgenommen hat.“
„Wundert mich, dass er ihn wollte und nicht mich. Ich würde mich viel besser in so einem Adelshaus machen als er.“
Hermes legte den Kopf nach hinten und sah hellhörig über die Kante seiner Pritsche hinweg kopfüber zu der Gruppe.
„Da willst du nicht hin!“, rief wieder der Erste, den er sprechen gehört hatte.
„Wieso denn nicht?“ Er überwand, ohne aufzustehen, mit seiner Stimme die Distanz zu den anderen Jungs, die sich von seinem Einwurf unterbrechen ließen. „Er hat jetzt Familie.“
„Idiot“, stieß ein anderer aus. „Denkst du wirklich, die wollen Charlie in ihre Familie aufnehmen? Er ist eine günstige Arbeitskraft für die, das ist alles. Er schafft ab jetzt für den Adel an.“
Unter dem kommandoartigen Spott der gesamten Gruppe und einigen grenzwertigen Bemerkungen hob Hermes den Kopf wieder auf sein Kissen und den Blick an die Decke.
„Noch immer besser als hier“, sagte er leise, aber ihm hörte bereits keiner mehr zu.
So groß die Aufregung wegen des Adelsmannes auch war, so war doch am nächsten Tag schon wieder jeder ganz mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Die Tuscheleien auf den Fluren drehten sich um andere Dinge und es war ein bisschen, als wäre Charlie Nuuk niemals in ihrem Waisenhaus gewesen. Eine Woche zog sich hin, und Charlie wurde ein vergessener Junge. Auch der Letzte hatte aufgehört, seinen Namen noch zu erwähnen. In Gedanken war Hermes seinen Spuren gefolgt, und versuchte sich an manchem kühlen Tag vorzustellen, welchen Aufgaben der andere gerade nachging, was man ihm zu essen vorsetzte und wie das Bett war, in dem er schlief. Ob er lesen lernen durfte, oder schreiben, ob er vielleicht sogar mehr lernte, als das Wenige, was verzweifelte Erzieherinnen ihnen beizubringen versuchten. Die Aussicht, im Dienste eines adeligen Mannes zu stehen, hatte in Hermes' Augen einen Schimmer an sich, der ihn lockte wie eine Elster. Wann immer ein Gast in ihr Haus kam und sich unter ihnen Kindern herumsprach, dass jemand käme, um sich eins von ihnen auszusuchen, streckte er den mageren Leib und tat sein Alles, ganz wie einer auszusehen, der in ein feines Haus hinein passte (dabei vertat er sich und machte sich durch Übertreibung lächerlich; er hatte wenig Vergleich und zog aus allem, was er bisher von Adeligen gesehen hatte, die falsche Bilanz). Es war ein zweckloses Unterfangen, denn es waren ohnehin selten die ganz Reichen, die zu ihnen ans Haus kamen, und wenn sich doch einmal einer davon blicken ließ, ging er, wenn er bei Hermes war, weiter, ohne ihn zu beachten.
Die Bonne Erina sprach ihm tröstlich zu, dass es ohnehin ein „Perlen vor die Säue werfen“, war, worum er sich so bemühte. Die anderen Kinder oder die unter ihnen, die seinen Eifer erkannt hatten, führten ihn untereinander vor. Von ihnen allen war einer der Schlimmste; ein Junge namens Samuel, der nicht einmal einen Nachnamen hatte, sich aber benahm wie die wichtigste Figur im Waisenhaus, solange nicht Ältere da waren, die ihm seine Mucken wieder ausprügelten.
„Wenn du dich mal ansehen würdest, dann wüsstest du auch, warum dich keiner will“, sagte er oft zu Hermes. „Du bist nicht von echtem Schrot und Korn. Hinz und Kunz können sehen, dass du keiner von uns bist. Du siehst es vielleicht nicht mit deinen Spaltaugen.“
Hermes gab selten eine Antwort und ließ den Jungen sein Garn spinnen. Seine olivbräunliche Haut und seine Augen, die mandelartig geformt waren und an beiden Enden spitz ausliefen, schrien einem jeden ins Gesicht, dass seine Ahnherren aus dem Südwesten Tyrias stammen mussten. So unfreundlich Samuel und seinesgleichen auch zu ihm waren, legte Hermes es doch nicht darauf an, mit ihnen in ein schlechtes Verhältnis zu geraten. Wenn es zu gefährlich war, sich ihnen anzunähern, beobachtete er sie aus der Ferne; und darin, Leuten nachzustellen, hatte er eine eigenwillige Begabung. Wie er anderen nachschleichen und sie aus dem Abstand observieren konnte, wenn keiner ihn beachtete oder sich seiner auch nur bewusst war, grenzte manchmal schon ans Unanständige, und Samuel hatte keinen Schimmer davon, dass Hermes oft dabei war, wenn er sich vor dem Heim am Zaun mit einem traf, den er seinen Freund nannte, und der ihn wahrscheinlich doch nur für seine Zwecke ausnutzen wollte.