"Wenn man Vater Rabe seine Hand reicht, um in die Nebel zu gehen, dann darf man keine Angst haben. Man sollte sich auf dieser Reise zwischen den Welten nur bewusst werden, welche Taten man begangen hat. Wird die eigene Legende weiter bestehen oder wird man in Vergessenheit geraten? Was hat man erreicht und wem ist man begegnet auf dem eigenen Pfad, den man begangen ist? Und wen lässt man zurück, wenn das schwarze Gefieder sich um einen legt, schützend den Weg ebnet, den Letzten welchen man antritt um schließlich in den Nebeln neben Ahnen und Geistern über die zu wachen, die ihren Weg noch nicht beendet haben."
Schwer schluckte sie und rief sich die Bilder des Vergangenen in den Kopf zurück. Lodernde Flammen, die so weit nach oben flackerten und so heiß brannten, dass sie es jetzt noch spüren konnte. Kleine Finger schoben sich auf die Wange und fielen dann doch wieder zurück auf ihr Bein. Seufzend schlug das Kind die in Leder gebundenen Seiten auf und strich mit den Fingern über die verschiedenen Worte, die sie nicht lesen konnte. Noch nicht. Einzelne Buchstaben kannte sie. Nicht genügend, um selbst zu lesen, aber das musste sie auch nicht. Schließlich hatte sie selbst die Bilder auf die Seiten gezeichnet. Bilder, die die Geschichten, Legenden und Mären erzählten, sodass sie die Worte gar nicht zu lesen brauchte. Musste sie auch nicht. Denn jede einzelne Schrift in diesem - ihrem - Buch, kannte sie auswendig. Jedes einzelne Wort. Und doch fehlte eine Geschichte, eine Legende, die sie hinein schreiben wollte. Nicht schreiben lassen, sondern es selbst tun. Das war sie ihrer Mutter und allen, die mit ihr gemeinsam in die Nebel gegangen waren, schuldig.
Stechend drückte es in ihrer Brust, als die Gedanken bei der Norn hängen blieben, die sie so lange nicht gesehen und letzten Endes doch vollends verloren hatte. Natürlich vermisste sie ihre Mutter lange nicht mehr so, wie zu Beginn. Die Monde, nachdem sie gegangen war, waren die Schlimmsten gewesen. Aber es war irgendwann einfach geschehen, dass sie diesen Zustand hingenommen hatte. Es waren andere Norn gekommen, die den Platz, die Leere gefüllt hatten. Trotzdem... würde der Schmerz irgendwann aufhören? Der Kummer, der in ihr hauste und sie nachts schlecht schlafen ließ, weil sie immer an ihre Mutter dachte. Würde es jemals aufhören?
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"Ich weiß, dass es schwer ist, dass es gemein und schrecklich ist, dass du deine Ma nicht mehr in die Arme schließen kannst. Es ist immer traurig, wenn man jemanden verliert, den man liebt. Aber du wirst daran wachsen, wie wir alle an unseren Verlusten gewachsen sind. Und manchmal... manchmal bleibt der Schmerz lange. Auch wenn man meint, dass er fort ist, so ist er nie ganz weg. Aber der Schmerz zeigt uns, dass wir leben und lieben. Dass wir zwar weiter leben und unserem Weg folgen, den die Geister für uns ausgewählt haben... doch durch das Geschehene größer, stärker und erfahrener geworden sind. Wenn man sich von dem Schmerz und dem Kummer einnehmen lässt, wenn man ihn die Oberhand gewinnen lässt, dann wird man nie mehr glücklich. Dann bleibst du auf deinem Pfad stehen."
Es würde niemals aufhören, weh zu tun. Nur würde es mit der Zeit einfacher werden. So wie sie zu Beginn traurig war, dass ihre Mutter sie wieder einmal allein gelassen hatte, weil sie fort musste. Es tat weh... aber irgendwann nicht mehr so sehr. Und sie wollte nicht stehen bleiben. Viel zu viele Pläne hatte sie schon geschmiedet, wie sie ihrer eigenen Legende nacheifern konnte. Sie würde die Taten ihrer Mutter niemals in Vergessenheit geraten lassen und selbst auf den Wegen gehen, die ihr bestimmt waren. Egal in welche Richtung die Geister und ihre Ahnen sie nun führten.
"Iida! Komm raus! Lasse hat gesagt, dass er den Arsch vonner Fisch-Olga mit der Zwille abschießen kann! Mit verbundenen Augen! Los KOMM!"
Blinzelnd schlug das Mädchen das Buch zu und horchte einen Moment, ehe sie eilig aufstand. Ein Lächeln huschte über die schmalen Lippen und in einer raschen Bewegung warf sie das Buch auf das Felllager und griff nach ihrer Zwille und dem kleinen Beutel, in welchem die Geschosserbsen verborgen waren. Und wie sie die schwere Hüttentür aufschob und in das leichte Schneegestöber hinaus sprang, da flog schon ein Schneeball auf sie zu, der am Holz zerbarst und kleben blieb. Natürlich hatte er sich den Versuch nicht entgehen lassen. Aber mittlerweile warf der Bursche sooft Schneebälle, wenn sie hinaus kam, dass sie es einfach wusste. Lachend kam er auf sie zu und zwinkerte. "Nächstes Mal treff ich!" Sie knuffte ihm die Schulter und aus dem Lächeln wurde ein Grinsen, mit dem sie dann auch schon losrannte, den Burschen verdutzt stehen ließ. "Ja komm fon mit, du lahmer Grawlarf!"
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