Tiefster Abgrund

"Es gibt Frauen mit heller Haut, goldenem Haar, kunstvoll gestaltet, in seidenen Kleidern, die weiblichen Vorzüge betonend. Diese Frauen werden von Bauern als dumm gesehen und einige von ihnen sind dies auch. Vom Großteil lässt sich jedoch sagen, dass sie eine hinterlistige Intelligenz ihr Eigen nennen, stets auf den eigenen Vorteil bedacht, ihr Körper, ihre Gefühle nur Handelsgut auf dem Markt der Reichen und Mächtigen. Dann gibt es noch Frauen wie Ark. Die Haut dunkel, von Feuern des Krieges verbrannt, unheilvolles, schwarzes Haar, welches an bestimmten Tagen vor Rot nur so trieft und schwimmt. In eine Rüstung gebunden, stille Gebete an die Götter schickend, um Vergebung für ihre Taten bettelnd, sie niemals erhaltend. Ihre Gefühle gehören ihnen allein, doch sind sie von Hass und Schmerz durchzogen. Erlösung kann ihnen nur von Grenth gebracht werden."


- Herr Tang -



Sie fühlte den Sand unter sich. Er war nass, feucht. Von Salzwasser durchdrungen. Das Meer übte eine Ruhe von Trauer und Melancholie auf sie aus. Nicht, dass sie dafür das Meer überhaupt brauchte. Die Sonne brannte unbarmherzig hinab auf die Stellen ihrer Haut welche noch freilagen. Die weißen Bandagen über ihren Brandwunden, den Schnittwunden, dem mehrfachen Knochenbruch ihres linken Armes... sie glühten im Schein des Lichts. Irgendwo hinter sich hörte die Frau etwas herunterfallen und ein Kind rief nach 'Papa'. Sie war in der Hütte, nur ein Stück den Strand hinauf an der Klippe, erwacht. Stumm hatte sie sich aufgerichtet, kurz die Orientierung gesucht, sie dann gefunden und war stumm den Strand hinabgewandert. Eine Weile hatte sie überlegt, in der Unterwelt zu sein... oder wo man auch immer hinkam, wenn man gefallen war. Eigentlich hatte sie von weiten Feldern und Bergen am Horizont geträumt... und nicht von einem Meer. In Richtung Landesinnere wurde es merklich grüner und lebendiger, daher blieb sie am Wasser. Dort wo ihre Seele hingehörte. Eine Weile, so hatte die Frau überlegt, wollte sie ins Meer hinausschwimmen und dort ertrinken. Sie hatte überlegt einfach zu sterben, die Verbände abzuwickeln und schlichtweg zu verbluten. Doch letztendlich tat sie gar nichts. Sie saß nur dort in der Sonne, in der seichten Meeresbrise, welche ihr langes, schwarzes Haar durcheinanderbrachte und dachte an gar nichts. Womöglich kam der Wind deshalb so unregelmäßig auf. Sie spürte ihn überall an sich. Versuchte der Wind sie zu trösten? Das war unmöglich. Ihre Trauer war ... die Taubheit. Sie hörte nichts von ihren Gefühlen. Ihr Körper existierte einfach, die Seele war gefangen.


Ein kleiner Schatten zeigte sich auf ihrem linken Oberschenkel und langsam wandte sie ihr Haupt nach links, betrachtete ein kleines Mädchen, konnte nicht älter als Vier sein. Sie begegnete dem Blick der Frau mit einem Grinsen voller unentwickelter Zähne. Das kleine Ding trug ein schlichtes, olivgrünes Kleid und hatte braunes Haar. Barfuss war sie mit einem Bündel auf dem Rücken und einem Stock in der Rechten. Ein Stück hinter ihr zeigte sich ein Junge mit rotem Haar, vielleicht zehn Jahre alt. Ebenfalls Barfuss mit Ärmellosem Hemd, kurzer Hose, einem größeren Rucksack auf dem Rücken und einer alten Eisenstange in den Händen. Und neben dem Kleinen stand ein großer Mann. Bärtig, Rotschopf, weder besonders alt, noch besonders jung. Seine Haut war hell, aber sonnengebräunt. Sein Bündel auf dem Rücken war das Größte und er trug auch eine Umhängetasche, sowie mehrere Angelruten. Fischer., dachte die Frau. Das Mädchen zog an einer schwarzen Strähne und winkte ihr zu, was sie mit einem Blinzeln quittierte. Dann wandte sie sich wieder ab und blickte hinaus auf das Meer, die Fischerfamilie schnell vergessend.


Der Himmel war merklich dunkler geworden und die Flut weit zurückgegangen. Dennoch rührte sich die Frau nicht. Sie wusste nicht, was sie da tat und es machte auch keinen Sinn. Es war ihr egal. Irgendwann brachte der Junge eine Holzschüssel mit zwei Fischen und einem Becher Süßwasser zu der sitzenden Frau. Sagen tat er nichts und auch sie sagte nichts. Vielleicht vergingen zwei Stunden, die Nacht brach herein und bis auf schattige Umrisse, sah die Frau nicht viel. Sie hörte dem Singen des Meeres zu, den Geräuschen der Nacht... es war eine ruhige Nacht. Wo war ihre Leidenschaft hin? Wo ihre Stärke? Wo ihr Stolz? War sie nurnoch eine Hülle? Am Morgen dann... hatte sie das Essen immernoch nicht angerührt. Auch hatte sie nichts getrunken. Der Fisch wurde von einigen Möwen gestohlen, die die sitzende Frau nicht als Bedrohung angesehen hatten. Im Laufe des Morgens kam dann der Mann, der 'Papa' vorbei. Er tauschte die leere Schüssel mit einer weiteren. Diesmal nur ein zubereiteter Fisch. Dann hockte er sich neben sie. "Du musst trinken.", sagte er.


Und Ark starrte ihn an.