Hundert zweiundsechzig Tage ohne euch meine Nebelwanderer. Ich sitze im Garten meines neuen Heimes, du würdest ihn mögen, er ist wild und ungebändigt mit Blüten in den schönsten Farben und Farnen breitblättrig und fächern. Ich sehe dich dort manch einmal stehen, die Hände in die Hüften gestützt und mit einem Vorwurf im Blick, dass nur ich Herrin über dieses Chaos sein könnte und du gerade dies an mir liebst. Dann schließe ich die Augen und mir ist als kämest du näher, legtest deine Arme um meine Taille um mich auf die Füße zu ziehen und zuletzt in deinen Arm. Dann funkelt mir das Grün deiner Augen entgegen während deine Nase sacht um die Spitze der meinen tanzt. Wie oft hast du mich so über meinen Büchern fortgeholt, wie oft habe ich dich gescholten dafür, wie oft haben wir gemeinsam gelacht darauffolgend. Mit einem Lächeln auf den Lippen öffne ich die Lider, du bist nicht hier, aber vor mir in den Händen auf dem Tisch liegt ein Meisterwerk.
Ein Buch, welches ich nicht nur lese, nein es vermag mich träumen zu lassen, auch wenn der Held so fern deiner ist. Sanft streiche ich über den ledernen Einband, betrachte die teils überstehenden Pergamentseiten und weiß um welchen Schatz es sich handelt. Mein Liebster, es ist so vieles geschehen in den letzten Wochen. Ich bin in Götterfels nah deines Bruders, er kümmert sich gut um mich, du fehlst ihm wie du mir fehlst, aber er hat mir ein wenig mehr Frieden gebracht mit seinen Worten. Ich habe ihm den kleinen Hahn förmigen Kupferanhänger geschenkt, du hast mir nie von der ~Hühnerbande~ erzählt welche ihr führtet; er, Samuel, der Kopf und du der starke Arm. Ich sehe euch halbstarken Burschen durch den Garten huschen dort in der Siedlung, mit einem getupften Huhn unter dem Arm und einem verstohlenen Blick über die Schultern. So ist mein ehrenhafter Held also ein Dieb gewesen, aber ich verzeihe dir, ich wusste ja bereits du bist ein Dieb als du mir mein Herz gestohlen hast unter dem ersten Kuss.
Wieder habe ich in der Erinnerung die Augen geschlossen, wieder öffne ich sie, mein Blick fällt auf einen jungen Weinstrauch und das von dir aus den Nebeln geschenkte Lächeln sinkt. Zurückbleibt ein Stacheltrieb, welcher abermals in die Haut meines Herzens fährt und mir meine eigene Dummheit vor Augen führt. Linus ich habe mich küssen lassen und schlimmer noch, ich wollte geküsst sein von ihm. Er weckte Sehnsüchte, weckte Hoffnungen und ließ mich für Augenblicke im Licht der Sonne stehen, sie auf meinen Wangen spürend und wärmend bis tief ins Innere. Es war ein Stück Frieden, ein Stück Lachen und eine stille Übereinkunft in der ich mich so sehr getäuscht habe, mich selbst betrogen habe. Bin ich in den Jahren mit dir blind geworden für das Wesen anderer Männer? War so vieles nur falsches Spiegelbild oder wahre Wirrung? Ich bin eine Freundin, eine Vertraute versprach es als mein vorherig blutendes Herz spürte wie die beginnenden Fäden der Nähte wieder aufrissen und das Blut sich mir um den Magen legte um ihn verkrampfen zu lassen. Es waren Nähte die er mir brachte mit seinem Gebaren, seinen Worten und Aufmunterungen aber der Faden war schadhaft, zu dünn um zu halten, er riss weil er es musste und weil er es wollte. Vielleicht ist er nicht gerissen, vielleicht haben seine Finger den kleinen Knoten gelöst und er verlor den Halt dessen und gab die Wunden, tief wie sie immerzu waren, wieder frei. Hasse ich ihn? Ich kann nicht, ich bin erzogen Größe zu zeigen, erzogen eine Freundin zu sein und zu lächeln, zu nicken. Aber ich bin wütend, ich bin verletzt und ich möchte ihn anschreien, toben und ausrasten. Ein Sturm will ich sein, kein laues Lüftchen! Damals konnte ich es noch, wo bin ich hin, hat man -mich- weg erzogen? Mich meines Wesens beraubt?
Ich schäme mich, habe mich so sehr geschämt bis ich mit Samuel darüber sprach. Du bist mit einem wundervollen Bruder gesegnet, aber ich bin mir sicher, du wusstest es bereits ohne das ich es dir sagen muss. Er ist mir hier ein Freund, ein Vertrauter und ein Bruder. Als ich mit ihm sprach, ihm eröffnete was geschehen ist, verurteilte er mich nicht, er nickte hatte Verständnis und tröstete mich. Trost, wie viel Trost mag er mir noch schenken bis er mir anfängt den Kopf zu waschen? Als Bruder, nicht als Priester, denn als dieser ist seine Güte grenzenlos. Doch weil er handelte, wie er es tat, habe ich gelernt zu verzeihen und ich habe auch wieder gelacht, ein Lachen, welches erst du und einige Wochen später in Götterfels mir ein anderer nahm. Es ist zurück, es wird bleiben und ich habe neuen Mut geschöpft. Ja, ich bin stark, ich war immer stark und lasse mich nicht zurückwerfen durch den Schmerz, durch hervorgeholte Scham und verletzte Gefühle.
~Ich bin nicht mit euch gestorben, ich lebe und ich muss mir dies immer wieder vor Augen halten~