Kalt wehte der Nachtwind durch das Tal. Ließ den leichten Flockenfall aufwirbeln und trug ihn weiter gen Süden, in wilden Kreisen und Spiralen, vom Nachtmond beschienen. Ein wunderbares Bild, das irgendwie doch in die Gedanken der kurzen Roten passte. Sie hatte sich das Fell fest um den Körper geschlungen und saß vor dem Schornstein, am höchsten Punkt der Hütte. Hier oben war sie noch immer frei. Hier oben war das Gefühl, dass sich nichts geändert hatte größer als sonst. Hier oben... musste sie sich nicht herumschlagen mit anderen ihres Volkes. Nur sie, der Wind, das Heulen der Wölfe und das Leben unter ihrem Herzen, das heute sanfter trat als sonst. Sie schloss einen langen Moment die Augen und lehnte den Kopf an den warmen Stein des Schornsteins, ehe ihr Blick zum Himmel wanderte.
Wann genau war sie das geworden, was sie jetzt war? Sie wusste es nicht mehr. Und doch hasste sie das, was die vergangenen Monde mit ihr gemacht hatten. Vielleicht hasste sie auch einfach nur sich selbst, oder die Norn, die ihr beinhahe jeden Tag begegneten. War sie wirklich so engstirnig und provokant? Hatte sie wirklich vergessen, was es bedeutete, wenn man einfach nur lebte? Wenn man... frei war?
Sie zog die Unterlippe ein und biss sich schmerzhaft darauf, nur um zu wissen, dass alles so real war, wie der eisige Windstoß, der über das Dach der Hütte fegte. Noch ein wenig fester und sie würde wieder den bekannten Geschmack von Blut auf der Zunge haben. Das wusste sie. Genauso wie sie wusste, dass es niemals so sein würde wie früher. Es würde nicht 'besser' werden. Anders, ja. Aber nicht so wie früher. Und auch für diesen Gedanken hasste sie sich. Konnte ein einziger Norn so viel Hass empfinden, wie sie es gerade tat?! Konnte sie, die immer tolerant und verständnisvoll war... sie, die jeden hatte leben lassen wie er wollte... Konnte sie wirklich das sein, was hier gerade auf dem Dach im Schnee kauerte und das Leben in ihrem Bauch zu sehr liebte, damit sie sich auf ewig selbst dafür hassen würde? Ein engstirniges, hassendes Biest. Eine Norn, die nicht dafür geschaffen war, mit anderen zusammen zu sein. Eine Norn... nein. Eine Wölfin, die ihr Rudel mehr liebte als alles andere. Eine Wölfin, die noch nie immer nur im Rudel unterwegs war.
Langsam legte sie ihren Blick auf das Fell unter welchem der runde Kugelbauch versteckt war. Ihre Finger lagen darauf, strichen vorsichtig über die warme Haut, nur um ruhig liegen zu bleiben, wenn das Leben des Welpen sich von innen heraus andrückte. Sie wollte das nicht sein. Aber würde sie die Kraft haben, das zu sein, was sie sein wollte? Kaum merklich, sodass sie selbst fast erschrak als es geschah, nickte sie. Und eine leise Ahnung machte sich in ihr breit. Worte, die sie vor langer Zeit gehört hatte. Worte, die ihre Mutter einst gesagt hatte.
Nachts, wenn du in den Himmel hinauf schaust zu den Stenbildern der Geister, dann denke immer daran, dass sie immer da sind. Wie deine Familie. Dein Rudel. Auch, wenn du sie einmal nicht sehen kannst... so sind sie dennoch da.
Sie unterdrückte ein schluchzen, das schwer in ihrem Hals hockte. Oh, wie sie es verdammte so labil und zerbrechlich zu sein. So... verletzlich. Aber sie wusste, dass direkt unter ihr im warmen Schein des Feuers die Norn saßen, die sie liebte und für die sie ihr Leben lassen würde. Die Norn, die sie liebten und wussten, wer sie einst gewesen war. Wie sie gewesen war. Und so hob sie den Kopf wieder und richtete sich gerade. Und sang ein altes Lied, dass viele schon vor ihr gesungen hatten, in den Nordwind hinein, auf dass er es mit sich tragen würde.
"Fürchte nicht die Nacht Und du bist für immer stark Der Morgen ist nun nicht mehr fern
Du bist nicht allein
Selbst durch Schatten
Finden Sterne ihren Weg
Erheb die Stimme, mit dem Licht des neuen Tags
Hoffnung ist nun nicht mehr fern..."