Jeder weiß, dass es sie gibt und doch kennt sie keiner. Geschichten, Legenden und Mythen die dort passiert sind, wo keine Seele, kein Lebewesen, nichts und niemand sie je erfahren könnte. Dennoch ranken sich um jeden einzelnen Schauplatz auf der Welt, die wir unser Eigen nennen, eben solche Geschichten. Legenden, die niemals jemand hören wird. Geschichten, die niemals nieder geschrieben werden. Mythen, die vielleicht niemals geschehen sind. Doch, wenn sie niemand kennt, heißt es auch, dass sie nie geschehen sind?
Wenn du daran glaubst, dass sie dennoch passiert sind, dann lies nur weiter, die Zeilen über die nie gehörte Legende von Nídhôggr und seiner Sippe.
Töchter
Eisig kalt war die Nacht, als Kindergeschrei aus der Hütte drang, die vor dem zerrenden Wind den nötigen Schutz bot. Der Schnee war selbst für die Verhältnisse im Eisklamm-Sund außergewöhnlich. Hart und spitz, wie tausende kleiner Nadeln schlug er denen ins Gesicht und auf die Haut, die sich nach draußen wagten. Doch drinnen in der Hütte, deren Einrichtung im leichten Dämmerlicht des Feuers lag, war es wohlig warm. Man konnte nur den Wind pfeifen hören, wenn das Kind denn endlich wieder still sein würde. Aber das sollte noch dauern. Denn das kleine Mädchen, das soeben das Licht der Welt - oder viel mehr das Licht der Hütte - erblickt hatte, schrie aus Leibeskräften. Alle standen sie versammelt um das Lager der hochgewachsenen Norn, die erschöpft in den Fellen lag und ihr Neugeborenes in den Armen hielt. Nackt auf nackt, war ihr alles im Moment egal. Niemand war mehr wichtig. Nichts war mehr wichtig. Einzig die dritte Tochter in ihren Armen zu halten und ein leises Lied summend anzustimmen, das über Generationen in ihrer Familie weitergegeben worden war - und das auch diese Tochter irgendwann an ihre Kinder weiter geben würde - das war wichtig.
"Nídhôggr...komm, Lieber und betrachte dein Kind," begann die Brünette leise und unterbrach ihr Lied. Man sollte nicht glauben, dass der hochgewachsene Kerl sie hören könnte. Und doch kam er aus seiner dunklen Ecke hervor, trat zwischen seine beiden ältesten Töchter und legte seinen Blick auf das Mädchen. "Du hast mir wieder keinen Sohn geschenkt," knurrte er leise und wandte den Blick wieder ab. Ja, die Geister hatten die kleine Familie erneut mit einem Mädchen gesegnet. Und Skjalda wusste, dass ihr Gefährte genau diese Worte wieder sagen musste. So war es bereits bei ihrer zweiten Tochter gewesen. Und wie schon bei dieser, plagte sie das schlechte Gewissen. Warum hatten die Geister sie ein Mädchen austragen lassen? Warum erhörten sie nicht ihre Rufe, endlich...endlich einen Jungen zur Welt zu bringen?! Wollten sie nicht? Hatten sie etwa andere Pläne vor mit den Töchtern? Die Geister...Skjalda wagte es nur noch selten ihrem Mann zu erklären, dass sie wirklich daran glaubte, die Geister hätten großes mit ihren drei Töchtern vor. Henna, Búa und schließlich Raija, die durch das leise summen, in welches nun auch die beiden anderen Mädchen einstimmten, leiser wurde. Die beiden Älteren wussten, trotz ihres jungen Alters, dass ihr Vater sie nicht wollte. Er wollte lieber Jungen haben und so waren die Mädchen selbst enttäuscht, als eine weitere Schwester zu ihnen stieß. Wieder eine Schwester, der man zeigen musste, zu sein wie ein Junge um vielleicht irgendwann doch Anerkennung vom geliebten Vater zu bekommen. Sie wollten ihn stolz machen, so sehr, dass sie sich schon lange weigerten Röcke zu tragen. Kurze Haare mussten es sein und die wildesten Herausforderungen, die ihnen begegneten. Doch allein diese zu finden, war als Norn eine Herausforderung an sich.
So war es Búa, die mit sieben Wintern im Schneesturm verschwand, um einem Widder nach zu gehen, den sie für den Vater erlegen wollte. Búa war es auch, die mit leeren Händen und einem gebrochenen Arm nach Hause kam, weil sie vor lauter Schnee den Abhang nicht gesehen hatte und diesen hinunter gefallen war. Und Henna, die schon fast seit sie laufen konnte, in der Schmiede ein Gehöft weiter aushalf, um ihrem geliebten Vater eine Rüstung zu erschaffen, die er verdiente. Eine Rüstung, mit der er prahlen und protzen könnte. Henna, die auch mit neun Wintern die Rüstung noch nicht geschmiedet hatte, weil sie den Schmiedehammer nicht halten konnte.
Und so würde es in einigen Wintern Raija sein, die ein Schwert halten würde, größer als sie selbst, um gegen die Kinder und Norn aus der Gegend zu kämpfen und somit ihre Stärke zu beweisen. Die Stärke, die sie so unbedingt ihrem Vater zeigen wollte.
Aber die Geister hatten vielleicht doch größeres mit den Mädchen vor, die nicht davon abzubringen waren, ihrem geliebten Vater zu imponieren.