Die Hochburg der Toten

Das Blut wummerte schwer in Sentenzars Adern, während er den nächsten Schritt die Treppe hinaufstampfte und Dietrichs Klingenkolben mit rechts in wüstem Gewaltausbruch bogenförmig schwang. Den eigenen Streithammer begleitend im linken Panzerhandschuh führend, mittig gepackt, brandete abermals wutentbranntes Brüllen aus seiner Kehle, und er rammte den Stoßdorn der vertrauten Waffe blindlings in eine andere Richtung. All sein Können, Technik und Präzision waren hier nicht mehr wichtig, er konnte kaum verfehlen. Ektoplasma stob spritzend zu beiden Seiten auf, und er hielt nicht inne, allem kalten Schmerz zum Trotz, denn die Hitze seines Kampfeszorns war stärker, brannte alle vorigen Krämpfe hinfort. Gesund war Brentons Energieschub ganz sicher nicht gewesen, aber der Zauber tat seinen Zweck.


Die Geister waren überall. Vor ihm, neben ihm, hinter ihm. Sentenzar hatte aufgehört sie zu zählen, wie sie gleichermaßen auf ihn zu und an ihm vorbei stürmten, um die anzugreifen, deren Rückzug er mit seinem Frontalangriff zu decken versuchte. Es waren zu viele. Er konnte sie nicht alle aufhalten, und er konnte erst recht nicht mehr zurück. Aber er konnte das tun, was er von allen Dingen am Besten konnte. "HUUAAAR!", dröhnte er abermals, während er den nächsten Hammerhieb führte. Schwerfällig und unpräzise zwar ob der einhändigen Begleithandführung, doch von roher Gewalt geprägt. Noch konnte er das bisschen dilettantische Feuermagie aufrechterhalten, das in hitzigem Orange um seine Handgelenke flackerte und seinen Angriffen zusätzliche Kraft verlieh.


Der Hieb durchfuhr den Geist jener wehrhaften alten Frau mit der Harke ohne jedweden physischen Widerstand und ließ die spektrale Gestalt genauso rasch verblassen, wie sie ihr Leben gelassen haben musste, als die Mordrem sie zerfetzten. Doch die Zivilisten waren in der Unterzahl unter den angreifenden Seelen. Der nächste Schwinger zog einen dünnen Schleier aus zerstörtem Ektoplasma nach sich, als er durch den geisterhaften Leib eines schwer gerüsteten Seraphen fuhr, der sich im Gegenzug weigerte, sich aufzulösen, und sich mit einem Schwerthieb revanchierte. Die spektrale Klinge fuhr durch den Harnisch des Balthasar-Priesters als wäre der belastbare Plattenstahl garnicht da. Der kalte, beißende Schmerz, der ihn durchbrandete, fühlte sich enorm real an, doch Sentenzar wusste, dass dort keine tatsächliche Klinge war, die ihn stoppen konnte. Eiserner Wille und vor Adrenalin kochendes Blut trieben ihn hinkend voran, immer weiter die Treppe hinauf, stumpfe Hiebwucht links und rechts verteilend. Er bildete sich ein, eine Stimme seinen Namen rufen zu hören, doch die Person, der er sie zuschrieb, hatte er draußen im Lager gelassen. Eine Einbildung.


Ätherisch widerhallende Rufe umgaben ihn, Klänge, die nicht von dieser Welt waren. "Wir fürchten Euch nicht, Mordrem!", gellten die gefallenen Seelen. "Zurück! Fort Salma wird niemals fallen!" Sentenzar fühlte sich an die Expedition nach Ascalon erinnert, doch er hatte keine Zeit, um in Gedanken zu schwelgen. Er musste kämpfen, kämpfen bis Nichts mehr ging. Etwas langes Knorriges mit zahlreichen dicken Dornen fegte peitschend durch sein Blickfeld und riss zwei Geister auseinander. Um die Szenerie herum erwachten die Ranken zu neuem Leben, angestachelt durch das allgemeine Chaos.


Wieder hörte er, dass sein Name gerufen wurde. Nein, gebrüllt wurde er, in zorniger Verzweiflung, nicht weit entfernt. 'Dronon, Dronon'. Immerzu, die geblendeten Schreie der Geister mit gesammelter Lautstärke durchdringend. Flanagan? Er musste ihnen doch ins Fort gefolgt sein. Warum hatten die anderen ihn nicht aufgehalten? Keine Zeit.. keine Zeit. Sentenzar presste die Zähne aufeinander und drehte sich nicht um. "ZIEHT EUCH ZURÜCK!", schmetterte er in gewohntem Befehlston, die Stimme klärend, eh ihn weitere Geisterklingen durchfuhren. Seine Kräfte begannen zu schwinden – doch die Schmerzen schürten seinen Zorn. Wenngleich die verzweifelten Rufe nach seinem Namen nicht aufhörten, wandte er sich nicht um. Er durfte es nicht. Nur einer würde heute vor Grenths Gericht treten, und das war er.


Ein bitterer Schauer fuhr dem bulligen Kriegerpriester den Nacken herunter, als er sich einem Geistersoldaten gegenüber wiederfand, dessen Gesicht er erkannte. Er kannte den Hauptgefreiten Gilbert Chadrinn noch von dessen Zeit in der Feste Shaemoor, und wenngleich er dabei gewesen war, als die Totenliste von Fort Salma verlesen worden war und nicht nur einen bekannten Namen darauf vernommen hatte, füllte ihn dieser Anblick mit unbändigem Hass auf den Feind, welcher diese tapfere Bastion Krytas ruiniert hatte. Umso mehr Gewalt legte er in die Schläge, welche Chadrinns spektrales Selbst nach und nach in wabernde Leere verwandelten. Sentenzar, zu allen Seiten von Geistern umgeben, kassierte zwei Treffer für jeden, den er auszuteilen vermochte, auch wenn er keinerlei physischen Widerstand spürte. Er achtete nicht auf seine Defensive. Längst war sie überflüssig geworden.


Die Kälte der Attacken kroch ihm stechend in die Knochen und wurde unerträglich. Er ließ gequält den Kiefer mahlen und sackte mit jedem stählern knirschenden Schritt vorwärts weiter zusammen. Mit einem Keuchen quittiert erlosch das elementare Feuer um seine Panzerhandschuhe, für das er keine Reserven mehr aufzubringen vermochte. Ein dünner Blutsfaden rann ihm aus dem Mundwinkel. Aber er musste weiter kämpfen, immer weiter, es MUSSTE so sein. Er würde nicht auf den Knien sterben und seinen Gott mit dem letzten Atemzug enttäuschen, wo er schon so viele Male vorher gescheitert war. So viele hatte er schon verloren, so vielen Anforderungen war er nicht so gerecht geworden, wie er es gewollt oder gesollt hätte. Doch es war zwecklos, noch Gedanken daran zu verschwenden. Das Hier und Jetzt war relevant.


Mit gefletschten Zähnen und vor hemmender Kälte steifem Arm zog er eine der vier Kanten von Novize Dietrichs Klingenkolben durch einen Geisterschädel, während Novize Flanagan hinter ihm abermals den Namen seines Mentors brüllte. Sentenzars Sicht begann, zu verschwimmen.


Unfähig, weitere Worte zu sprechen, betete er stumm zu Balthasar und stählte seinen Geist, versuchte, das stärkende Feuer zurück zu holen. Der Versuch implodierte in einem orange flackernden Fauchen, als er mit solcher Wucht überraschend von der Seite gerammt wurde, dass alles aktive Denken in dumpfer Schwärze aus seinem Hirn und er selbst von den Füßen katapultiert wurde. Bei dem scheppernden Aufprall flog ihm der Hammer aus der Hand, und dann hing er mit beiden Pranken über einer monströsen Ranke und wurde baumelnd wie eine Puppe durch die Luft geschwenkt. Er hatte keine Kraft mehr. Die Arme rutschten ab, und er fiel. Unten wurde oben, oben wurde unten, sämtlicher Orientierungssinn hinfort gefegt. Dann erst kam das zweite Scheppern, welches ihm den letzten Rest Atemluft in einem scharfen Pfeifen aus den Lungen trieb.


Er lag auf dem Rücken. Der Schmerz war fort.. oder so stark, dass sein Kopf abzuschalten begann. Er spürte seine Glieder kaum mehr, den Blick aufwärts in den Nachthimmel gerichtet. In irgendeiner Senke musste er gelandet sein, denn über ihm tat sich zu beiden Seiten nur Erdrutsch auf. Er rechnete damit, jeden Moment den finalen Stoß zu erleiden. Oder hatte er ihn schon erlitten und starb langsam? Er konnte es nicht sagen. Alles war so kalt. Er hasste die Kälte.


"Na komm, du Bastard..", krächzte der Priester Balthasars mit zerstörter Stimme zu der Mordrem-Ranke hinauf, die mehrere Meter über ihm aggressiv in der Luft vorbei schwenkte. Doch das Ding verschwand aus seinem Blickfeld und kehrte nicht wieder. Die Kakophonie der schrillen Geisterschreie war immer noch überall. Und er konnte sie immer noch sehen, wenngleich Niemand ihm mehr Beachtung zu schenken schien. Die unheilvoll wiederauferstandenen Mannen von Fort Salma kämpften einen erbitterten Kampf mit den Ranken. Auch die Schemen unschuldiger Zivilisten wurden zerfetzt, schreiende Kinder unter ihnen, während die Soldaten sich qualvoll aufopferten, um ihren heimatlichen Boden vermeintlich zu retten. Ein grausames Spektakel, das trotz der abrupten Gewalttätigkeit beider Seiten kein Ende zu nehmen schien. Sie kämpften die Schlacht ihres Untergangs ein zweites Mal durch.


Geist um Geist erlosch, während der einzige lebende Mann vor Ort versuchte, sich aufzurichten, sich lediglich hinzusetzen. Er stellte fest, dass er es nicht konnte. Er fühlte sich entsetzlich alt, und das machte ihn abermals wütend. Alles hier machte ihn wütend. Gesichter zogen vor seinem inneren Auge vorbei, Namen. So viele Krieger, so viele Mitstreiter, an deren Seite er kämpfte und gekämpft hatte, die auf seinen Rat vertrauten und denen er sein Leben anvertrauen würde. So viele junge Kämpferseelen, über die er zu wachen hatte. Denen er seinen Dienst schuldete. Und nicht zuletzt.. jene, die fernab zurück geblieben waren und warteten. Er hatte eine Verantwortung. Sentenzar knirschte mit den Zähnen, wie er es schon hunderte Male getan hatte.


Der Griff um den Klingenkolben festigte sich matt. Und während Dunkelheit seinen Geist fortzutragen begann, schwor er Balthasar einmal mehr, dass er weiterkämpfen würde.


"Wer weder zögert noch zurückweicht, wird belohnt werden."


[color=#000000]- Schriften des Balthasar, 48 V.E.

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