Zwölf Uhr Tee (A. Fairleigh)

Unmerklich gruben sich ihre Finger tiefer in den seidenen Bezugs des hübschen rosé farbenen Sofas, welches sich zentrisch in diesem adrett eingerichteten Salon befand. Durch die mannshohen Mosaikfenster aus weißem und gelben Glas, fiel warmes Spätherbstlicht auf den plüschigen, hellbraunen Teppich, der mit Brokattrotteln verziert war und eine Szene mit der göttlichen Melandru, mit einer Schar nackter, weißer Kinder um sich herum, zeigte. Eine schöne Szene, welche man gerne und oft in den Häusern fand, die nicht nur der Lyss zugetan waren, sondern auch die Göttin der Erde, der Natur, der Ernte anbeteten. Die Tapeten des Zimmerchens offenbarten sich in einem warmen rosa und braun. In hübschen, mal breiten, mal schmalen Linien wand sich das Muster von der Stuckdecke gen Boden. Über ihnen schwebte ein goldener Kronleuchter, der aber, ihrer Erfahrung nach, bescheidener ausfiel ans jener im Empfangssaal.
„Welch eine Freude, dass ihr bald heiraten werdet, meine Liebe. Wir alle fragten uns schon, wann es endlich soweit wäre. Schließlich seid ihr im richtigen Alter und euer Debutantinnenball liegt auch schon eine Weile zurück. Diesen Frühling war er doch? Oh, ich erinnere mich. Er war entzückend. Die Vorhänge, die ihr gewählt habt, passten so absolut großartig zu den Bezügen der Kissen.“
Aillis hätte am liebsten geschrien, glaubte sie nicht im gleichen Moment an jeglichem Laut zu ersticken. Ihre Lunge schmerzte unter einem heftigen Krampf, der nichts mit ihrer kränklichen Natur gemein hatte. Sie fühlte sich hilflos und nackt, während sie der Lady Rochefort ins Gesicht lächelte und die Hände zum Tee führte, um diese beschäftigt zu wissen. Mit Schrecken stellte sie fest, dass ihre schlanken, milchblassen Glieder zitterten. Lady Rocheforts Gesicht enthüllte gnadenlos, dass sie diese kleine Schwäche auch bemerkt hatte. Doch lediglich ein mitleidiges Lächeln traf das edle Fräulein auf ihrer Chaiselongue. Wusste sie von Aillis Angst? Oder schob sie das Zittern auf ihre schwache Gesundheit? „Ich...“, begann das Mädchen, wenig damenhaft und räusperte sich. Nein sie musste den Satz anders beginnen. Denn 'sie' hatte mit dieser Sache nichts gemein. Sie wurde in all dem nicht gefragt. „Ja, mein Vater ist ebenso hoch erfreut, dass seine Lordschaft mir den Hof macht. Er sagt er besitzt ein deutliches Vermögen und einen tadellosen Ruf.“ Sie drehte die Tasse auf dem passenden Unterteller. Unbehaglich. Als sie neuerlich aufsah, traf sich ihr Blick mit dem der Ladyschaft und sie schluckte schwer. Mitleid lag in den Augen der Frau. Doch weder auf ihre Angst bezogen, noch auf ihre Gesundheit. Es war das Mitgefühl einer Frau, die wusste, was auf Aillis zukäme. Eine Frau, die vor vielen Jahren nicht weniger ausstaffiert auf ihren Ball geschickt wurde. Zahlreiche Knicks und Handküsse später und diverse Gespräche über Kleider und Stoffe, über Besitz und Politik- war es wohl dann ihre Lordschaft, der sie als passende Partie auserwählt hatte und das Schaf zum Schafott der arrangierten Ehe führte. Aillis begriff es in diesem Moment, als sich ihr Blick mit dem der Frau ihr gegenüber traf und der Klos in ihrem Hals wurde ungewöhnlicherweise etwas lichter. „Ich bin ganz sicher, euer Debutantinnenball war ebenso prächtig. Und die Vorhänge um ein vielfaches schöner und prächtiger.“, erklang es dann hell und sanft von dem rotgelockten Mädchen. Lady Rochefort lächelte dünn, sogar recht undamenhaft schief. Kurz sah sie sich verstohlen um, als suche sie nach ungebetenen Lauschern. Mit einem etwas zu lauten Klackern landete ihre Tasse samt Tellerchen auf dem Glastisch zwischen ihnen.
„Es wird erträglicher für euch, wenn ihr euch an diesen Dingen zu erfreuen lernt. Ich hoffe für euch, dass er die Jagd liebt. Dann sind sie wenig daheim und die Gefahr, dass sie sich bei einem Ritt das Genick brechen ist recht hoch. Ja, so eine gefährliche Sportart.“ Sie schlug ihren hübschen Fächer auf und wedelte sich Luft zu, als wäre es plötzlich ein paar Grad zu warm im Raum. Aillis beobachtete die Dame, welche die vierzig nun schon weit überschritten hatte. „Eure Lordschaft schätzt die Jagd nicht?“, fragte das halbe Kind leise.
„Nein... nicht mehr. Er stürzte vor Jahren vom Pferd, brach sich das Becken und lag wochenlang in tiefer Ohnmacht...“ Plötzlich wurden die harten Züge der Ladyschaft weicher. „Manchmal, junge Lady Fairleigh... wenn man nicht zu hohe Erwartungen pflegt und sich nicht blind und starr macht. Manchmal kann man lernen einen Menschen zu lieben. Manchmal kann man sich an einander gewöhnen und sich zumindest schätzen. Mein werter Gatte ist dick und plump. Unterbrecht mich nicht, ich spreche gerade offen zu euch... also lasst mich diesen miserablen Anfang auch beenden: Er riecht nach dem Abendessen immer nach Knoblauch und Speck. Und doch lernte ich am Krankenbett, als er schon erwacht war und trotz allem noch Monate bettlägerig, dass er ein sanftes Gemüt besitzt. Dass er es versteht Geschichten zu erzählen, ob nun spannende, schauder- oder märchenhafte.“ Die Dame lächelte dünn. „Nun, da unser Sohn schon fast selbst verheiratet ist... und unsere Mädchen auch bald ihr Debüt feiern werden, ist es auch so, dass unsere Ehe einen anderen Aspekt angenommen hat. Wir sind Vertraute. Seelenverwandte. Wir lieben einander wie Bruder und Schwester und dies mag vielleicht mehr wert sein, als Gefallen und Leidenschaft. Nicht wahr?“
Aillis nickte tumb, wieder mit diesem Gefühl belastet schreien zu wollen. Reichte es IHR denn? Würde es ihr genügen?

"Wer die Klinge beim Griff ins Dunkel nicht erwartet, den schneidet sie umso tiefer!"


"If you think that this has a happy ending, you haven't been paying attention"