Knospentraum II

DU HAST VERSAGT.


Immer wieder wiederholten die Stimmen diesen grausigen Satz, bis er in jedem Winkel seines Verstandes widerhallte. Er verstand nicht, wieso er versagt haben sollte. Er hatte
alles getan, was man verlangt hatte, er war sogar einen halben Schritt weitergegangen. Er hatte dieses Wesen, welches nun vor ihm lag, völlig gebrochen. Geistig wie körperlich. Aber er hatte es am Leben gelassen.
Und dennoch brüllten die Stimmen ihm weiterhin sein Versagen in die Ohren.


Es wurde plötzlich dunkel. Wieder breitete sich mit einem Schlag tiefste Schwärze aus, als habe Nymvir nun wirklich sein restliches Augenlicht auch noch verloren. Zu der Dunkelheit kam die tiefste Stille, der er je hatte lauschen können. Stille, wie sie nur ein gänzlich Tauber hören konnte. Panik wallte in dem Spross auf; hatten die Stimmen ihre
Drohungen wirklich wahrgemacht? Blind, taub und orientierungslos versuchte er, irgendetwas zu ertasten. Aber da war nichts. Er spürte zwar festen Boden unter seinen Füßen, aber um ihn herum konnte er nichts ertasten oder wahrnehmen. Die Panik in ihm wurde unerträglich, wie die unaufhaltsame Welle eines Tsunamis schlug sie über ihm zusammen und ihn
zu Boden, presste ihm die Luft aus den Lungen, die er in einem Schrei nutzen wollte. Ob er wirklich schrie, wusste er nicht. Er konnte keinen einzigen Laut vernehmen, während sein Körper in der wachen Welt in der Alptraumblüte dermaßen schrie und kreischte, dass die Wache vor der Tür der Kammer sich zu einem stirnrunzelnden Blick über die Schulter
hinreißen lies.


In seinem Alptraum gefangen vergingen für Nymvir die Minuten, Stunden und gar Tage, als existierten sie nicht. Er hatte nicht nur die räumliche Orientierung verloren, sondern auch das Zeitgefühl. Es konnten erst Sekunden vergangen sein, aber genausogut hätten es auch Jahrhunderte sein können, die der Spross Starr vor Angst in der stillen Schwärze zubrachte. Er war allein, nichts und niemand war in seiner Nähe. Das war alles, was er wusste und spürte. Angst durchfloss ihn, als habe sie sich mit dem Harz seines Körpers verbunden und wurde zu dem einzigen Gefühl, das zu fühlen er noch im Stande war. Angst, nackte Angst, immer wieder unterbrochen von aufwallender Panik ohne eine Möglichkeit, sie in irgendeiner Weise auszuleben oder zu lindern. Die Stille schrie in seinen Ohren und die schwarze Dunkelheit umnebelte langsam seinen Verstand.


In dem Moment, in dem er dachte, dass sein Geist endgültig brechen müsste, bildete er sich ein Gefühl ein, als nähme ihn jemand in den Arm. Erschrocken hielt in allem inne und tastete vorsichtig in die Dunkelheit. Aber da war nichts. Er war immer noch allein. Und doch... irgendwie war da etwas. Oder jemand.
Er wusste nicht, wie viel Zeit erneut verfloss, bis in seinem Kopf eine leise Stimme auftauchte.


"Ich bin da."


Verwirrt blinzelte Nymvir - oder glaubte zumindest, dies zu tun. Spielte sein Verstand ihm nun auch noch einen Streich?


"Ich bin da, keine Sorge... Ich helfe dir."


Mehr sagte die Stimme in seinem Kopf nicht, so sehr er sich auch anstrengte, hinzuhören. Aber diese Stimme innerhalb seines Kopfes kam nicht wieder. Auch sie lies ihn nun wieder allein der stillen Dunkelheit. Allein mit der wiederkehrenden Angst, die er sich nicht so recht zum Freund machen konnte.
Wieder schienen Äonen zu vergehen, bis ein gleißendes Licht sich vor seinem Auge auftat, welches nach der ewigen Finsternis so hell war, dass es ihm im Auge schmerzte. Er wagte kaum, hinzusehen, spürte jedoch eine Berührung, wie aus weiter Ferne, die ihn zunächst zurückzucken lies. Wieder hörte er eine Stimme zu ihm sprechen, diesmal von außen. Die Stimme kam Nymvir vage bekannt vor und nur langsam sickerte der Name in sein Bewusstsein. Terendal.


War es vorbei? Ungläubig und mit unglaublicher Schwäche in den Gliedern streckte Nymvir langsam einen Arm aus in die Richtung, aus der er die Stimme des Kleinen vernommen hatte.
"Hilf mir..." krächzte er leise.


Es war vorbei.