Die Weiße Rabin - Kapitel 2: Friedberg

Kapitel 2: Friedberg


"Warum hast du ihn nicht gleich mit dem Pfeil durchbohrt?" erklang Sylvis Stimme über das Plateau. Obwohl die Stimme weich war, als würde sie jeden Morgen die Stimmbänder mit Honig einschmieren, schwang doch viel Tadel mit, wie die einer Mutter zu ihrem Kind.
Bärgard musste Schmunzeln unter seinem braunroten Bart, der sein halbes Gesicht verbarg. Hätte Sylvi das gesehen, wären schon die nächsten strengen Worte ihm entgegen geflogen. So atmete der große Norn durch und betrachtete den Sohn Svarnirs, vor dessen Leiche er kniete. "Und was hätte ich davon gehabt?" Bärgard drehte sich um und betrachtete Sylvi, die wie immer in einer langen weißen Robe gekleidet war, die nicht mal einen Ansatz davon präsentierte, was sich darunter verbarg. So wie ihre Robe waren auch die Haare gefärbt, die ihr am Rücken bis über die Schulterblätter hinab reichten. Das Gesicht war von den Haaren befreit, wodurch man ihr junges Gesicht erkennen konnte, das noch von keiner Narbe gekennzeichnet wurde. "Es ist ehrenlos jemanden ohne Vorwarnung von Hinten zu erschießen."
Der Norn konnte aus der Entfernung nicht erkennen, ob Sylvi wirklich die Augen verdrehte und seufzte, aber er kannte sie schon lange genug, um zu wissen, dass sie es tat. Sie war noch jung und verstand nicht viel von Ehre. So wandte sich Bärgard wieder dem Sohn Svarnirs zu und nahm ihm seine Rüstung ab, die aus nichts weiterem bestand als ein paar Trägergürteln um die Brust und den aus Bärenfell gegerbten Hosen und Schuhen. Vielleicht brachte ja das Schwert was ein. Die hellblauen Augen wurden von der eisernen Klinge reflektiert. Sie war aus gutem Stahl angefertigt, doch nichts besonderes. Schade. Auch der Bogen war nur ein Bogen, wie ihn schon viele Norn besaßen und die meisten Pfeile hatte der Idiot schon auf der Jagd eingebüßt. Bärgard musste enttäuscht seufzen.
"Wohl kein großer Held der Söhne Svarnirs?" Sylvis Stimme klang fast schon höhnisch, als sie sich an Bärgard angeschlichen hatte.
"Es wird uns etwas Nahrung einbringen. Hol die Jutesäcke aus den Rucksäcken raus, damit wir die Sachen verstauen können." Bärgard war sichtlich enttäuscht über die Beute, aber sie würden dennoch im Frieberggehöft einen Abnehmer finden.
"Also wäre es doch besser gewesen, ihn gleich von hinten zu erschießen." stellte Sylvi fest, als sie sich hinkniete und die Jutesäcke aus den Rucksäcken herausholte.
"Nein!" konterte Bärgard etwas lauter als er es eigentlich wollte, weshalb er auch sogleich beim nächsten Satz die Stimme wieder Einhalt gebieten ließ "Niemand erzählt eine Legende über einen Helden, der mit einem Pfeilschuss von hinten seinen Gegner niederstreckte, ohne dass der es überhaupt mitbekommt. Die packensten Legenden, von denen auch noch in hunderten von Jahren an den Lagerfeuern gesprochen werden, sind die in denen der Held in einem spektakuären Zweikampf seinen Gegner erschlägt."
Sylvi schaute kurz hoch und Bärgard blickte in ihre lavendelfarbigen Augen. Sie waren gefüllt von Unverständnis und leichter Arroganz, als würde sie ein Kind ansehen. Bärgard hasste es, wenn sie ihn so ansah... und das wusste sie. Sie war jung und verstand nichts von der Welt. Die Norn lebten lange. Sie brauchten die Abenteuer, die Reize von Herausforderungen... immer der selbe Trott über ein-zwei Jahrhunderte weg? Das wäre nichts für ihn, aus Langeweile würde er sich wohl selber mit der Klinge ein Ende setzen, aber das würde Sylvi irgendwann verstehen.
Die lavendelfarbigen Augen hatten sich wieder der Beute zu gewandt, die eines nach dem anderen in zweien der drei Jutesäcke verschwanden. In einem landeten die Hose und die Schuhe, wie Ledergürtel. Im zweiten Jutesack landete der Einhänder, der Kurzbogen und der Köcher mit den letzten drei Pfeilen. "Fertig." verkündete Sylvi und erhob sich. Auch Bärgard erhob sich von seiner knieenden Position und zog seinen Zweihänder Milfrost. Jedes Schwert einer Legende brauchte einen Namen, deshalb brauchte auch Bärgards Schwert so einen.
Jetzt, da die Kleidung nicht mehr verschmutzt werden konnte, kam nun die letzte Tat zum Tragen, bevor sie sich zum Frieberggehöft begeben konnte. Mit einem gezielten schnellen Schlag trennte die Klinge den Kopf des Sohn Svarnirs von seinem Körper. Bärgard hatte den Todesstoß absichtlich in die nackte Brust des Sohn Svarnirs geschlagen und dann ganz langsam die Klinge herausgezogen, damit der Blutschwall nicht die Kleidungen, wie auch Waffen verdreckte, wodurch sie gleich einen minderen Preis gehabt hätten.
Der Kopf, der so blass war wie der Schnee und sonst nichts Auffälliges besaß bis auf ein paar Runentättowierungen, landete im dritten Sack und wurde komplett eingeschnürt, damit der Verwesungsgestank Sylvi nicht noch zum Tränen brachten. Nun konnte es zurück zum Frieberggehöft gehen.
Der Frieberggehöft hätte schon lange den Namen Gehöft verlieren müssen, dachte sich viele Norn wie auch Bärgard. Ein Gehöft war diese Ansammlung mehrerer Hütten, Zelte und Unterkünfte schon lange nicht mehr. Es war schon längst eine Freistatt mit kommenden und gehenden Bürgern. Der einsam in die Höhe ragenden Berg in mitten schneebedeckter Einöde war ein natürlicher Schutz gegen die Söhne Svarnirs. Es gab weit und breit keinen Ort, wo sie sich hätten verstecken können, um sich dann anzuschleichen. Dieses Schicksal erlitten viele Gehöfte im Norden. Die Bewohner die zu feige waren, um ihr Hab und Gut zu kämpfen, flohen hierher auf den Berg.
Es herrschte reges Treiben auf der Anhöhe. Man hörte kaum das Pfeifen des eiskalten Windes, der zwischen den maximal einstöckigen Gebäuden wehte, so viele Norn tuschelten, quatschten und natürlich prahlten. Unter all den Norn erspähte Bärgard auch so manchen Kodan. Kodan waren auf zwei Beine gehende Eisbären, die sich in der Allgemeinsprache unterhalten konnten. Sie hatten einen seltsamen Glauben, dass alles auf der Welt in Gleichgewicht gehalten werden sollte. Bärgard verstand nicht, was sie damit meinten. Für ihn gab es nur die Personen, die ihn töten wollen, und die, die es nicht wollen. Die ersteren starben durch seine Klinge, die Zweiteren trank Bärgard unter den Tisch.
Bärgard gefolgt von Sylvi gingen zu Gunhars Hütte. Gunhar hatte, nach dem sein rechter Arm im Kampf gegen einen Eistroll abgerissen wurde, seine kämpferische Laufbahn beendet. Er arbeitete nun als freier Händler und nutzte seine Erfahrung im Umgang mit Waffen darin, Schrott von guter Ware zu unterscheiden. Bärgard hätte mit den erbeuteten Sachen auch zu jemand anderes gehen können, denn die Waffen und Rüstungen waren wahrlich nichts besonderes und hätten bei Händlern, die kein so gutes Gespür besaßen wie Gunhar, bestimmt mehr Gewinn gebracht. Aber Bärgard ging immer zu Gunhar und deshalb auch diesmal.
"Ho, Gunhar. Na, dein Arm immer noch ab?" grüßte Bärgard den weißbärtigen Händler mit gewohnter Floskel.
"Ja." antwortete der Händler "Ich habe noch nicht beschlossen ihn neu nachwachsen zu lassen. Ich will ja euch Jungspunden nicht den ganzen Ruhm abnehmen. Ho, Sylvi."
"Ho, Gunhar." grüßte Sylvi ihrerseits den alten Norn. Mehr durfte man von Sylvi nicht erwarten. Sie sprach selten in Gesellschaft von mehreren Personen sehr viel. Während die anderen redeten, saß sie nur da und beobachtete. Sie beobachtete die anderen Personen oder auch nur die Umgebung.
Für die schier endlosen Waffen und Rüstungen, die an den Wänden hingen oder in Ständern aufgestellt waren, hatte Bärgard keinen Blick übrig, stattdessen ging er gleich zum alten Norn, dessen Gesicht mehr Falten mittlerweile aufwies als Narben.
Der Blick der grünen Augen fixierte sich auf Bärgards Säcke. "Und was hast du mir heute schönes mitgebracht?"
Sylvi wie auch Bärgard legten die Jutesäcke mit den Waffen und Kleidungen ab, die sogleich von Gunhar inspiziert wurden. "Habt ihr einen Skalden getötet?" verspottet der Händler die Beute, als der linke Arm darin herumfuhr.
Bärgard öffnete den Mund, um etwas sagen zu wollen, ließ es aber bleiben. Er wusste ja selber, dass die Beute nicht viel wert sein konnte.
"Gesungen hat er wenig." entgegnete Sylvi. Dabei nahm die Norn Bärgards Sack mit den Kopf und schob die Öffnung auf, worauf sich der kahle Schädel des Sohn Svarnirs zu erkennen war.
An den aufgerissenen Augen bemerkte Bärgard, dass Gunhar ihn gleich als Sohn Svarnir Schädel erkannte. Es war auch leicht. Sogar ohne die Runen auf den Kopf war die Hautfarbe ein Indiz dafür, dass es sich um einen Norn handelte, der vom Fluch Jormags verdorben wurde. Die Haut war gräulich egal wie lange ein Sohn Svarnirs in der Sonne stehen konnte. Sie wurden nicht gebräunt, als wäre die Kälte in ihren Körpern stärker als die Wärme der Sonne.
"Hmm..." Gunhar begann zu überlegen. Ein Kopf eines Sohn Svarnirs war viel Wert. Nicht weil man viel damit anstellen konnte. Es ging mehr darum: So viele von die ehrenlosen Schweinen abzuschlachten, die tatsächlich meinten, dass ein Drache der Anführer aller Tiergeister wäre, und da war ein guter Preis ein guter Anreiz.
"Und wie viel ist alles zusammen wert?" hakte Bärgard nach.
"Zehn Kilo gepökeltes Fleisch. Fünf vom Dolyak, drei vom Schwein und zwei von 'nem Moa."
Essen war das wichtigste, was man als Gegenleistung für Beute bekam. Waffen, Rüstungen und Nahrungsmittel waren die gängigsten Zahlungsmittel. Deshalb war Bärgard zufrieden mit dem Preis und wollte so den Handel mit einem Handschlag abschließen, als Sylvi plötzlich sich zu Wort meldete: "Was ist das?" Sylvi deutet dabei auf ein handgroßes J-förmiges Ding.
Gunhar wandte sich um und betrachtet das Teil. "Ach, das." kam es abschätzend "Das ist eine Waffe, die mir ein Mensch darbot. Sie nennen es eine Pistole."
"Und was kann es?" Sylvi war sichtlich interessiert und wandte nur mehr, wenn sie Gunhar ansprach, den Blick von der Waffe ab.
"Man fühlt die Pistole mit Patronen - zylinderförmigen Geschossen - und wenn man das kleine Zäpfen mit dem Finger zieht, werden sie auf den Gegner abgefeuert."
Bärgard konnte das verächtliche Schnauben nicht unterdrücken. "Also nichts anderes wie eine Schleuder? Ich wusste, dass Menschen nicht viel aushalten, aber das sich von sowas töten lassen... Da bleibe ich doch bei meinem Bogen. Mit denen kann man wenigstens auch wirkliche Gegner töten."
"Du kannst die zwei Kilo vom Moa behalten, dafür will ich die Pistole, samt Patronen." sprach Sylvi in einem Händlerton, der keinen Widerlaut duldete, den sie auch von Gunhar nicht befürchten musste, wahrscheinlich war er froh darüber, dass er diese Schleuder für so viel loswerden konnte.
"Bist du verrückt?! Für eine Schleuder so viel Nahrungsmittel zu verschwenden."
Sylvi schaute Bärgard wieder mit diesen herabwürdigenden Blick an. "Ja." Er hasste es. Rein wegen diesem Blick hätte er Sylvi bei der nächsten Rast verlassen können, aber ihre Mesmerfähigkeiten waren billiger als jede Falle, darum duldete er die Norn an seiner Seite. Egal wie viel Nerven sie ihm raubte. "Aber wehe du verlangst, dass ich dir etwas von meiner Ration abgebe."
"Tu ich nicht." Gunhar überreichte Sylvi ihre Schleuder und Bärgard konnte nur den Kopf schütteln. In ihm brannte Wut hoch. Er musste sich ablenken. Ein anderes Thema finden, bevor er etwas noch zusammenschlug. "Warum sind so viele Kodan im Gehöft?" fragte er daraufhin Gunhar.
"Sie wollen uns überzeugen, dass wir gen Süden fliehen und uns mit den anderen Völkern zusammenschließen, um gegen die Drachen zu kämpfen."
"Echt?!" Bärgard schnaubte. Die ganze Welt bestand nur noch aus Feiglingen kam es ihm vor. Ein Drache, der friedlich schlief, machte mehr Angst als eine Heerschar von Trollen. "Das sind doch alles Feiglinge."
"Ein paar sind schon aufgebrochen und wollen im Süden eine Stadt gründen."
"Vernünftig." kam es von Sylvi, die die Schleuder in der linken Hand führte und seltsame Bewegungen vollführte, bis sie dann unter der Robe verschwand.
"Vernünftig?!" polterte Bärgard "Sie werden allesamt noch sehen, was sie von ihrer Vernunft haben werden. Wir werden alle als große Legenden und Helden gefeiert, die die Söhne Svarnirs ausgelöscht haben und auf ihren geliebten Drachen gepisst haben, und sie werden als Hasen bezeichnet und zurecht gedemütigt, dass sie vor ein paar Großschwätzern den Schwanz eingezogen haben." Bärgard musste lauthals lachen "Sogar Gunhar, der nur noch einen Arm besitzt, ist hier geblieben und denkt nicht mal dran gen Süden zu ziehen. Stimmts, mein Freund?"
"Ja, die werden wohl mehr brauchen, als einen Drachen, um Friedberg einzunehmen." stimmte Gunhar mit ein.
"Was machen die Norn, die nicht" Sylvi hielt kurz inne "ihren Schwanz eingezogen haben?"
Gunhar antwortete schnell: "Es gibt eine kleine Eisfeste, die von den Söhnen Svarnirs errichtet worden ist. Sie befindet sich hinter dem Gebirge, das ihr im Norden seht. Hildin Wolfrensdottir und ein paar Freiwillige wollen sie stürmen und jeden einzelne Sohn Svarnir darin um einen Kopf leichter machen. Wollt ihr euch ihnen auch anschließen?"
"Natürlich." sagte Bärgard und lächelte "Und das nächste Mal, wenn wir wieder kommen, kannst du uns deine ganzen Nahrungsvorräte abtreten. Wo finde ich den Hildin?"
"Im tanzenden Dolyak ist sie immer um die Zeit und lauscht den Prahlereien."
"Gut." Bärgard nickte und verließ mit verstauter Nahrung den Händler "Wir sehen uns wieder."
Sylvi blieb noch eine kurze Zeit an derselben Stelle stehen und schaute dem Norn nach. Gunhar sah noch, wie sie leicht den Kopf schüttelte, doch sagte er nichts, stattdessen sprach Sylvi ihn an. "Leb wohl." sagte sie nur, als sie mit wallender weißer Robe ihrem Gefährten folgte.