Zittrig glitten ihre Finger über die Saiten, waren feucht und steif. Es fiel ihr schwer die richtigen Töne zu treffen, sich an die Noten zu erinnern und sich die verinnerlichten Bewegungen vor das geistige Auge zu holen.
Es hatte sie fast eine halbe Stunde Zeit gekostet, die Schnüren und Haken ihrer Kleidung zu lösen und sich das Nachthemd überzustreifen, so schwer fiel es ihr sich auf die einfachsten Tätigkeiten zu konzentrieren.
Nun saß sie vor der offenen Balkontür in der kalten Nachtluft, deren aufrauender Wind ihr am dünnen, weißen Leinen und am Haar zurrte, während die große Harfe zwischen ihren Schenkeln und an ihrer Schulter ruhte. Den Gips hatte sie abgenommen, und wie ihre Finger über die Saiten glitten, schmerzten die zwei gebrochenen Finger stechend und lästig. Doch das kümmerte sie nicht; Sie brauchte die Musik. Brauchte sie jetzt.
Ihr Atem beruhigte sich nur langsam. Wie froh sie war, dass Albert nicht hier war, sondern losgegangen war um sie im Ministerium aufzusuchen und ihr ein Abendessen vorbeizubringen. Doch auch dort würde er sie nicht vorfinden.
Sie war vor ihm geflohen. Das konnte sie nicht leugnen, und ihm war es ebenso klar wie ihr – davon war sie überzeugt. Vom ersten Moment an, von der fixen Idee, über den Ring, den Kniefall, den Antrag. Sie hatte sich gewunden, sich gewehrt, ihren Geist gegen die Idee gesperrt und sich dagegen gesträubt näher darüber nachzudenken. Hatte ihn verschmäht, ihn verletzt, bloßgestellt und degradiert.
Und dennoch hielt er ihr die Treue.
Als sie in ihr Büro hinaufgekommen war, nachdem sie ihn ein weiteres Mal vor den Kopf gestoßen und ihn stehengelassen hatte, war ihr der Strauß zunächst garnicht aufgefallen. Erst, als sie schon fast an der Balkontüre angekommen war, die Hand schon im Türgriff hatte, bemerkte sie die unförmigen Flecke am Rande ihres Sichtfeldes, was dazu geführt hatte, dass sie den Kopf zur Seite drehen musste.
Ihre Hände waren gesunken, als sie sich in Gänze umgedreht hatte, und auf den Schreibtisch zugegangen war; Albert hatte wohl den Strauß dort abgestellt, anders konnte es nicht sein, und doch…
Sie hatte die Rechte vorgestreckt und war beinahe ängstlich, als fürchte sie etwas zu zerstören, mit den Fingerkuppen über die blaue Schärpe mit den eingestickten, steigenden Hirschen gefahren.
Schwertlilien. Die Lilie. Die Iris.
Die Erkenntnis war wie ein schwerer Brecher über ihr zusammengeschlagen und hatte sie unter sich begraben, in dem Moment als ihre Knie nachgegeben hatten, und sie vor dem Schreibtisch zusammensackte. Mit hängendem Kopf zwischen den Ausgestreckten Armen, die sich an der Tischkante festkrallten, hatte sie die Tränen nicht zurückhalten können. Heiß und voller Schande rannen sie ihr die Wangen hinab und tauchten die dunklen Sommersprossen in ein feuchtes Bett. Sie hatte geschluchzt und sich kaum halten können.
Es hatte eine Weile gedauert bis sie sich dazu aufraffen konnte, die Blumen in einen Leinsack zu wickeln und sie, mit Kapuze über dem Kopf, eiligsten Schrittes nach Hause zu tragen.
Nun thronte der prächtige Strauß in einer weißen Porzellanvase auf ihrem Nachtschrank, und stellte dabei gleichsam den einzigen Schmuck in ihrem Gemach dar.
Mittlerweile waren die Tränen versiegt, und einer bleiernen Schwere in ihrem Herzen gewichen. Die Musik aber tröstete sie, und mittlerweile glitten ihre Finger geschmeidiger, leichter über die Saiten, und der Schmerz hatte sich selbst betäubt. Ebenso wie der Nachtwind ihre Arme, die Zehen, die Nasenspitze betäubt, und dafür Sorge getragen hatte, dass all ihre Härchen sich in einer Gänsehaut und ihre Brust sich naseweis gegen den dünnen Stoff aufgerichtet hatte.
Sie fühlte sich verraten und betrogen. Von einer Frau die sie als Freundin geachtet, und von dem Mann den sie geliebt hatte. Hatte?
Sie war nicht sicher, ob die Vergangenheitsform an dieser Stelle korrekt gebraucht war, aber sie war sicher dass sie an den Punkt gelangen wollte, gelangen musste an dem es zutreffend war.
An den Ort, an dem sie Rachepläne schmieden konnte. Sie musste abschließen, denn ihr war klar, dass sie sich nicht länger von derartigen Lappalien ablenken lassen durfte. Das war ihres Namens nicht würdig.
Das war ihrer selbst nicht würdig.
„Die ganze Welt ist gegen dich, Liebste, denn anders wäre es nicht gerecht.“
Während ihre Finger über die Saiten glitten, um die letzten Töne durch das nächtliche Fenster hallen zu lassen, fand ihr Blick sich bei dem Strauß ein.
„Nein. Die Welt ist gegen mich und Richard.
Und sie wird bereuen die falsche Seite gewählt zu haben.“
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