Ihr Atem ging schwerer und sie hing über das Waschbecken gebeugt. Mit den beiden Händen klatschte sich die jungeFrau einen Schwall kaltes Wasser ins Gesicht bevor sie ihren Blick zum Spiegel erhob, das Abbild darin zu betrachten wie ein abstraktes Kunstwerk, wie sie es noch nie gesehen hatte. Müde Augen blickten ihr entgegen während von den dunklen Wimpern noch das Wasser tropfte, sich seinen Weg über ihre Wangen und ihr Kinn abwärts bahnte.
„Was ist nur aus dir geworden…“, hörte sie ihre eigene belegte Stimme sagen. Eingehend betrachtete sie das Antlitz, welches ihr aus der Spiegelung entgegen sah. Es waren dieselben Züge, die sie aufwies doch etwas fehlte. Es war eine wilde Entschlossenheit, welches sie vermisste, ein Ausdruck der Ehre und Anstand in ihrer Mine untermauern sollte. Wie viel Zeit war vergangen seit ihrer Ankunft? Wie viele Wochen hatte sie bereits verschwendet? Fragen die sie nun quälten und sie hinterfragen ließen. Der Plan war doch gewesen durch die Hölle und wieder zurück zu gehen, alles ihr Mögliche zu leisten um das Versprechen zu halten, den Jungen zurück zu bringen. Und durch die Hölle war sie auch gegangen, der Rückweg jedoch, so schien es ihr jetzt, der war versperrt und wird es auch bleiben. Der Weg der sich ihr erschlossen hatte war ein steiniger gewesen, eine Falle in der sie gefangen wurde und in der sie zu Boden gedrückt wurde, eine Wandlung durchgemacht hatte, welche vielleicht unvermeidbar gewesen war. Und nun, so kam es ihr vor, hatte sie sich mit dem angefreundet was aus ihr geworden war. Mit zittriger Hand strich sie ein paar der dunklen, glänzenden Locken zurück, die in einer stürmischen Unordnung lagen und damit ihr Innerstes besser beschrieben als ihr lieb war.
Ellinor stützte sich mit beiden Händen auf den Rand des Waschbeckens sich nun gerade zu richten, die Schultern knackend zu straffen und somit durch pure Ignoranz der Übelkeit zu entfliehen. In einer trägen verschlafenen Bewegung drehte sie sich um und blickte ins Nebenzimmer. Die Sonne ging gerade erst auf während ihr Blick durch den kleinen Raum glitt, über die paar wenigen Möbel, die Bücher und schließlich das kleine Schlafsofa und den darauf liegenden Mann. Wirr fielen ihm die Haarsträhnen ins Gesicht und sie konnte das Heben und Senken seiner Brust unter den Atemzügen sehen. Er schlief mittlerweile deutlich ruhiger als noch in den ersten Nächten, so kam es ihr zumindest vor. Und sie vermochte nicht zu sagen ob das an ihr lag oder an diesem Schleier von Normalität in den sie sich versuchten zu wickeln. Immer wieder in den letzten Tagen hatte sie sich gefragt wie lange es wohl anhalten würde, wie lange diese Phase bleiben würde bevor wieder alles zusammenbrach. Denn sie war töricht gewesen zu denken, dass sie ihr Versprechen einfach vergessen konnte und für sich eine eigene kleine Welt aufbauen konnte, in der es nichts gab was sie vor die Frage stellen sollte, wer sie war und wer sie sein wollte. Eine kleine schwebende Seifenblase hatten sie sich erschaffen, schillernd in den schönsten Farben, im bezauberndsten Funkeln, das es nur geben konnte. Und zuletzt hatte sie es sogar geglaubt, geglaubt dass sie wirklich ein normales Leben führen könnten, dass dem nichts im Wege stünde.
So leise wie möglich bewegte sie sich auf das Schlafsofa zu, mit bloßen Füßen über den Boden wandernd. Es wurde wirklich allmählich Zeit, dass das Haus fertig würde. Viel länger hielt sie es in dieser Bruchbude nicht aus. Vielleicht weniger weil die Wohnung wirklich so schrecklich war, sondern viel eher das Wissen marterte sie, dass sie eigentlich Besseres verdient hatten als das. Behutsam, bloß kein Quietschen oder Knacken zu erzeugen, ließ sie sich mit auf das Sofa sinken. Selbst im ausgeklappten Zustand bot es nicht sonderlich viel Platz und sie mussten zusammenrücken. Nicht dass einen von ihnen das gestört hätte. In einer fast schon beiläufigen Handbewegung strich sie ihm eine der dunklen Strähnen hinters Ohr, verharrte mit den wasserblauen Iriden auf seinem Gesicht. Wenn sie überhaupt in der Lage war zu verstehen, was Zuneigung eigentlich war, dann gewiss durch ihn. Die Ascalonierin rätselte was geschehen würde, wenn ihm etwas geschah, wenn er sie verließe oder verriet wie alle anderen. Doch irgendwo verblieb die Hoffnung in ihr, dass es gar nicht dazu kam, er sagte es immerhin oft genug. Oft genug um es sie glauben zu machen doch auch oft genug um die Angst nur noch greifbarer erscheinen zu lassen vor einem Ende, welches jeder Zeit kommen könnte. Hauchzart strich sie mit den Fingerspitzen über seine Wange, ihn nicht in seinem Schlaf zu stören. Diese kleine schillernde Seifenblase im Sonnenlicht, sie wurde nun schon seit ein paar Wochen vom Wind getragen und doch wusste Elli, dass ihre Zeit begrenzt wäre. Denn am Ende des Tages, so hübsch die Seifenlauge auch im Licht schimmerte, schlussendlich platzt sie und zerfließt rot wie Blut. Die Frage die blieb war nur noch, wann es soweit war, wann die Götter den Moment wählen würden sie platzen zu lassen. „Manchmal wünschte ich du wärst einfach so schnell wie möglich weg gelaufen als du noch die Chance dazu hattest.“, flüsterte sie leise. „Das könnte dir so viel Schmerz ersparen.“ Aber er hatte sich nun einmal entschieden und deshalb musste er nun die Strafe mit ertragen, die das Schicksal für sie bereithalten würde. Dafür, dass sie so maßlos war, viel zu viel auf einmal wollte in dem Versuch alles andere zu verdrängen, nichts mehr an sich heran zu lassen und die andere Seite an ihr zu verdrängen. Es würde nicht ungesühnt bleiben, bestimmt nicht. Denn aus den Kellern und Schächten kriechen Verdorbenheit und Wahnsinn, welche diese Stadt des Terrors erschaffen. Eine Stadt die keinen Frieden erlaubt, sich nimmt was auch immer sie braucht und dabei keine Sekunde über die Konsequenzen nachdenkt. Und die Mauern des Terrors heben sich über alles andere empor, das wusste sie. Aber es war doch irgendwie vorherbestimmt, oder nicht? Sie haben sich gesucht und gefunden, nicht wahr? Als sollte es so sein.
Wie ein Ungeborenes im Mutterleib rollte sich der junge Lockenkopf nun auf der kleinen Schlafstätte zusammen, schlang die Arme um ihren Leib und atmete tief ein und aus. Wie sehr sie das Ziel aus den Augen verloren hatte, vom Weg abgekommen war, und wofür? Für diese süße Illusion einer heilen Welt, eines normalen Lebens, welches doch nicht so sein wird wie bei anderen. Sie beide waren eben nicht wie andere und das mochte natürlich seine Vorteile haben, aber vielleicht bedeutete es eben auch das Normalität und Frieden nie mehr sein würde als ein ungreifbarer Wunschtraum der ebenso zerplatzt wie die kleine Seifenblase. „Autsch…“ versuchte sie den Schmerz weg zu atmen. Ob sie Elir von den Krämpfen erzählen sollte? Nein, wahrscheinlich würde er sich nur unnötig Sorgen machen. Und es war sicher vollkommen normal, wieso sollte es das auch nicht sein? „Alles wird gut Elli, alles wird gut. Es ist alles in Ordnung.“, sprach sie in Gedanken immer wieder wie ein Mantra vor sich hin während die Krämpfe noch eine kleine Weile andauerten. Sie bemühte sich sich nicht zu fürchten. Für Angst gab es keinen Platz. Es war der ewige, nie endende Kampf den sie ausfechten musste und in dem sich der Wunsch sich in eine friedliche Illusion zu flüchten dem Bedürfnis gegenüberstanden stark zu sein, mächtig zu sein und sich beflügelt von einem mutigen Herzen und den Flammen des Kampfes gegen jede Angst zu stellen, ohne jedes Wanken oder Zögern weiter zu machen in der Hoffnung, dass am Ende eine reiche Entlohnung wartete. Aber die Illusion gab ihr Freude und Ruhe, weckte eine Schönheit in ihrem Leben die sie nicht gekannt hatte.
Obwohl es eigentlich viel zu warm war schlüpfte die junge Frau unter die Decke, schmiegte sich jetzt an ihren Gefährten, der, immer noch schlafend, beinah automatisch den Arm um sie legte während sie ihren Kopf auf seiner Brust bettete. Von dem leisen Blubbern aus dem Nebenraum ließ sie sich langsam in den Schlaf lullen. Die Träume waren in den vergangenen Wochen nicht besser geworden. Doch es hatten sich neue dazugesellt, jene die ihr das Bild einer Zukunft schenkten die sie vielleicht nie haben würde. Doch sie nutzte sie um dem unwohlen Gefühl in der Magengegend zu entkommen, die schlimme Gewissheit, die sich in ihr Bewusstsein einzuschleichen suchte, beiseite zu schieben. Wie lange das noch gut ginge, das würde sie wohl bald herausfinden.
Nestraub - Die Illusion von Normalität
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Spekulatius -
11. August 2015 um 05:37 -
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