Er rückte seine
Brille zurecht bevor die Tür mit einem leisen Klacken hinter dem älteren Mann
zuging. Das Augenmerk hatte er noch auf die Bücher gerichtet, welche er wie
stetige Begleiter mit sich führte. Schon
bei der Einkehr in den Raum kroch ihm ein penetrant blumiger Geruch in die
Nase, der selbige frech Kitzelte und ihm ein Niesen entlockte. Behutsam wurden die
Wälzer auf dem dunklen Holz des Tisches abgelegt. Das Holz hatte schon deutlich
bessere Tage gesehen. Geziert von diversen Kratzern und kleinen Löchlein war
die Tischplatte für nicht mehr in Gebrauch zu nehmen als ihren Zweck des
Abstell-Mobiliars sowie einfachen Arbeitsplatz. Und erst jetzt hob er den Blick zu seiner
Schülerin, die, wie nicht anders zu erwarten, bereits da saß. Doch das Bild,
welches sich seinen Augen bot, stellte ihn alles andere als zufrieden, ließ ihn
seine Brille noch einmal zurrechtrücken. „Was soll das werden Fräulein Pisani?“
Das Wissen über den Ärger der ihr drohte schien sie nicht aus einer gewissen
Gelassenheit zu reißen. Eine hübsch aufgesetzte Maske die er sie gelehrt hatte
fast schon war er ein wenig stolz. Doch nun sah er sie mit erhobenen
Augenbrauen an. Die graubraunen Iriden ruhten auf ihr und warteten auf eine
Antwort.
„Ein Experiment.“ Kam diese dann auch von dem Mädchen. An die 15
Sommer war sie alt und blickte ihn an als wäre sie die weise Lehrmeisterin. Nur
dass sie nicht aussah wie eine. Die Beine hatte sie auf den Tisch hochgelegt,
das lange schwarze Haar hatte sie mehr als einen Schuss zu viel roter Farbe
zugefügt. Es sah aus als stünde ihr Schopf in Flammen, eine Optik die ihn unschlüssig
zurückließ und die Frage aufwarf wieso überhaupt. Der sonst so
ordentliche und gepflegte Rock wie auch ihre Bluse hätten nicht schlampiger an
ihr hängen können. Der Ausdruck in ihrem Gesicht kündete von einer gewissen
Gleichgültigkeit. Doch er konnte ihren Herzschlag selbst auf Entfernung wild
pochen hören, was ihm gewisses Vergnügen bereitete.
„Soso und welches Experiment? Und was hat das mit den Studien zu tun denen du
nachgehen sollst?“ Von einer Strenge gewichtet erklang die leicht rauchige
Stimme aufs Neue und er ließ sich als die Gelassenheit in Person auf den Stuhl
ihr gegenüber nieder.
„Das Thema ist der Aspekt der Dualität, die die Göttin uns lehrt.“
Fuhr sie unbeirrt fort als wäre es ihr nahezu lästig ihm ihre Gründe auch noch
erklären zu müssen.
„Und inwiefern hat schlechtes Benehmen und eine schreckliche Haarfarbe mit den
Lehren der Göttin zu tun? Wiederhole, was war deine Aufgabe?“
„Meine Aufgabe war es Tagebuch zu führen
über meinen Alltag und euch zu berichten inwiefern die Dualität des Seins
diesen Alltag beeinträchtigt.“ Antwortete sie brav so monoton klingend wie sie
es nur konnte.
„Richtig. Also erklär dich und nimm gefälligst deine Beine vom Tisch!“ Er würde
sich gewiss nicht von ihr provozieren lassen. Aber selbst jede Entspanntheit
hat ihre Grenzen und definitiv am Arbeitsplatz nichts verloren.
Der ruhige Blick verwandelte sich in eine Art Starren, ein Starren aus dem es
kein Entkommen gab. Die Schülerin verdrehte die Augen und zog schließlich die
Füße vom Tisch diese brav über einander zu schlagen und die Hände auf den Knien
ablegend.
„Ihr erzählt mir nun seit Jahrzehnten wie wichtig das Gleichgewicht ist, wie
wichtig Beherrschung und Kontrolle ist.“
„Das ist korrekt, jemand der deine Fähigkeiten hat muss lernen sie zu
kontrollieren und das bedarf einem inneren Gleichgewicht und einem gewissen Maß
an Disziplin.“
„Und nun stelle ich fest dass ihr mich all die Jahre belogen habt.“
Er runzelte die Stirn, verkniff sich ein Lachen.
„Also zunächst hätte ich es niemals Jahr-zehnte- mit dir ausgehalten. Du
hättest mich längst um meinen letzten Funken Geduld gebracht und ich hätte
meine letzten Tage als Bauer auf einer Maracujafarm in Südlicht gefristet um
dich nicht mehr sehen zu müssen. Und außerdem habe ich dich nicht belogen.
Disziplin ist erforderlich, alles andere wäre unverantwortlich. Du weißt wieso
dich deine Mutter hergebracht hat. Hier sollst du lernen dich zu kontrollieren.
Aber im Moment merke ich davon nicht viel.“
„Nun hat aber Kontrolle keinen Wert ohne den Kontrollverlust und Disziplin
nicht ohne wilde Anarchie. Genau so
wenig wie Fleiß ohne Faulheit keinen Wert hat. Das habt ihr mich doch gelehrt,
nicht wahr“
„Worauf willst du hinaus?“ Noch schien er nicht die Geduld mit ihr zu
verlieren. Vielleicht war es auch besser, dass er sich diesem Mädchen
angenommen hatte und keiner der Brüder und Schwestern.
„Dass ich der Ansicht bin, dass meine Aufgabenstellung bisher schändlich falsch
umgesetzt wurde. Wenn uns die Göttin lehrt dass das Schwarz nicht ohne das Weiß
kann, wieso wird sich dann so krampfhaft darum bemüht dass ich lediglich Weiß
in meinen Lehrplan einbringe? Und wie soll ich in den paar Stunden am Tag, die
ich diese Räumlichkeiten verlassen darf so etwas wie einen Alltag entdecken?
Ich kann die Aufgabenstellung wie ihr seht also gar nicht erfüllen. “
„Kind, du weißt genau warum es notwendig ist, dass du bisher hier geblieben
bist. Wir wollen nicht dass dich die Sache wiederholt, oder?“
Sie ließ merklich die Schultern hängen und seufzte tief aus der Kehle. „Nein…wollen
wir nicht…“
Ein paar Sandkörner fielen und sie verblieben zunächst Schweigend. Eine Regung
des Mitleids huschte in sein Gesicht. In einem Ton getränkt von Frustration
erhob das Mädchen wieder das Wort. „Ihr lehrt mich, dass Milde ohne Härte
keinen Sinn macht, Glück und Unglück, Genuss und Verzicht, sucht euch was davon
aus. Ich möchte, dass ihr mich lehrt beides für mich entdecken zu können und
mir nicht eine der beiden Seiten zu verwehren aufgrund eines Risikos, welches
sich Priesterin Caresta seit mindestens einem Jahr nur noch einredet. Ich bin
in der Lage mich zu kontrollieren. Bringt mich in dieses Gleichgewicht von dem
ihr immer so verheißungsvoll sprecht, alter Mann!“
„Zunächst solltest du auf deine Wortwahl achten.“ Erwiderte er recht trocken
auf ihre Aussage hin, kam dann aber ins Grübeln. Weitere Wimpernschläge
verstrichen und zwischenzeitig hätte sie fast befürchten müssen er sei
eingeschlafen.
„Ich möchte beides sein, oder keines von beidem, wie ihr es nennen wollt. Ich
möchte die Schurkin und die Heldin sein, die Heilige und die Hure, die züchtige
Lehrmeisterin und die versaute Schlampe“
„Hüte deine Zunge, woher hast du das denn schon wieder?“
„Ich hatte viel Zeit zu lesen. Und ich kann euch sagen, dass die Geschichten um
die Gräfin Margret Lisbon, der Lady aus der gehobenen Gesellschaft, und Henry
Steel, ihrer Leibwache, die heimlich zusammen in ihr einsames Anwesen in den
Bergen verschwinden und einander im Sonnenuntergang…nun jedenfalls denke ich
nicht, dass diese Lektüre wirklich tiefgreifend die Lehren der Schönheitsgöttin
näher bringt. Auch wenn durchaus…tiefgehende…Erkenntnisse dadurch zu erlangen
sind.“ Dann folgt ein kleines Hüsteln ihrerseits und sie grinst ihm frech und
zahnreich entgegen.
Nun konnte er sich ein leises Lachen nicht mehr verkneifen ehe er wieder zur
Ernsthaftigkeit zurückkehrte.
„Und weil du das Ansicht bist, dass du beide Seiten in all ihren Extremen
ausleben musst, hast du dir die Haare gefärbt und rennst herum als gehöre dir
die Welt?“
Ein Nicken ihrerseits.
„Recht drastisch, meinst du nicht? Ich werde mit Schwester Caresta reden, wir
finden da schon einen Weg. Auch wenn sie nicht dafür sein sollte. Aber du weißt
von Nichts.“
„Meintet ihr nicht eben noch ich treibe euch in den Wahnsinn und ihr werdet vor
mir auf eine Maracujafarm in Südlicht flüchten?“
„Nun das hat ja vielleicht noch ein wenig Zeit. Und wenn du erst die Prinzipien
Lyssas, auf das du ja so sehr pochst, verinnerlicht hast und dabei im Einklang
mit dir selbst und der Welt bleibst dann gehst du mir vielleicht auch nicht
mehr so auf die Nerven. Und jetzt setze deinen Aufsatz fort.“ Ihre Mundwinkel
erhoben sich zu einem Schmunzeln, sie schlug schwungvoll ihr Notizbuch auf,
griff sich die Feder und begann unter kratzendem Geräusch zu schreiben wie
geheißen.
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