„Wo warst du gestern Nacht, Helena?“
Auf einem Wiesenstück in Shaemoor in der Nähe des Dorfes und nicht weit vom Friedhof entfernt umkreiste ein junger Mann, dessen Kleidung so fest und dunkel war wie sein Haar, ein hellhäuptiges Mädchen. Er warf ihr indessen aus grünen Forscheraugen Blicke zu, die sie nicht recht zu deuten vermochte, und in die sich leicht Spott oder Freundschaft hineinlesen, die sich unkompliziert als Symbole eines ironischen, vom Witz vergifteten Wesens deuten ließen, herablassend, tadelnd, aber auch fürsorglich sein mochten. Es blitzte darin ein geschulter Instinkt, sie und ihr Handeln und alles was sie tat und sagte zu hinterfragen, und immer wenn er sie auf diese Weise ansah, fühlte sie sich geprüft. „Ich hab nichts zu verschenken, auch nicht meine Zeit.“
Er hatte heute ein verwildertes Äußeres. Obwohl er noch Jugend versprühte, schöne, geschürzte Lippen und klare, glatt wie geschliffen abfallende Wangen hatte, zwischen denen eine zierliche Nase mit engen Flügeln sich zu geraden Brauen hinaufzog, hatte sein Verhalten wenig von der feinen Anmut seines Gesichts und seiner akkuraten Bewegung, von denen jede eine wendige, schnelle Rührungen war. Er ging immer wieder seinen gemächlichen Bogen um das zu Boden sitzende Mädchen und starrte auf sie herab ohne das geringste Verständnis, und wo er kein Verständnis hatte, blieb ihm nur der Hohn.
„Es ist nicht mehr so leicht, mich nachts davon zu schleichen. Es ist jetzt auffällig, weil überall einer wacht.“
„Also scheiterst du schon an der ersten Stufe. Du schaffst es nicht einmal mehr bis zu mir. Sollen wir überhaupt weitermachen?“
Vendetta Rubinstein hatte für sein Alter schon einen ungezähmten Vorrat an Provokationen angereichert, an hauptsächlich schonungsloser Ehrlichkeit, die ihn in seiner Wesensart, die Leute bei ihren Schwächen zu erwischen und diese Stellen zu streicheln, nur erhabener machte, selbst wenn die Kleider, die er trug, nur dann hätten einfacher sein können, wenn sie farblos gewesen wären.
„Belächle mich nicht. Ich bin jetzt hier, oder?“
„Soll ich dir für deine siebzehn Stunden Verspätung ein Lob aussprechen?“
In einer Geste von Würde und Ermattung drehte Helena jetzt ihre spitze Nase, ließ sie zucken und schmälerte ihre Nüstern. Sie war noch filigraner als er, nicht nur, weil sein Gebaren gröber war, grob übrigens auf eine einschneidende Weise, die nicht auf Rauheiten im Tonfall oder barsche Ausdrücke angewiesen war. Seine Freundlichkeit war die Schneide, die wie durch Butter in eines Menschen Stolz schnitt, wenn man nicht Acht gab, sich nicht darauf einzulassen.
„Ich war nicht da“, erwiderte sie ihm und würdigte ihn keiner weiteren Erklärung. „Komm drüber hinweg.“
„Ich schätze keine Untreue.“
Sie hob den Kopf, als sie ihn hinter sich spürte. Sie schätzte seinen Abstand auf einen halben Klafter ein, was in seinem Fall wahrscheinlich bedeutete, dass er näher stand, denn wenn sie einen Menschen kannte, der es verstand, einen anderen über die Nähe zu verwirren, in der er sich wirklich zu einem befand, dann war es dieser. „Du hast dich dazu entschlossen, also erwarte ich deine Hingabe.“
Sie sagte nichts, bis er den Halbkreis um sie abgeschlossen hatte und sich vor ihr hinabbeugte. Ein abendliches Licht fiel in seine Augen und tauchte ihr grünes Auskundschaften in goldenen Glanz.
„Ja“, sagte sie da ergeben. „Ich weiß.“
„Was ist los mit dir? Du bist schwach zur Zeit, Helena. Du ergibst dich mir, anstatt mich zu fordern. Seit wann bekomme ich die Oberhand?“
Er streckte ihr die Hand entgegen, um ihr Beistand beim Aufstehen zu leisten. Wo sie sie aber erfasste, presste sich sein Griff wie eine Zange um sie und überwältigte Helena mit einer Drehung ihres eigenen Leibs, die sie aufrecht in den Stand zwang. Er stand dicht hinter ihr und hatte jetzt einen Arm um ihren Hals geschlungen. Mit der anderen hielt er eine Klinge dagegen. Helena war überrascht und heimlich bestürzt, aber sie fürchtete sich nicht, denn sie wusste, dass die Schneide stumpf war. Woher er sie so schnell genommen hatte, fragte sie sich schon gar nicht mehr.
„Naivität jetzt auch noch?“, hörte sie die sich verständnislos erheiternde Stimme des elendigen Vendetta an ihrem Ohr vorbeiziehen. „Was zerreißt dich? Du bist unkonzentriert.“
„Zeig mir das mit den Schatten“, versetzte sie durch die Zähne gepresst mit einer feindseligen Ader, und sowie er auch das Funkeln der Animosität in ihren Augen nicht sah, musste er es doch aus ihr herausgehört haben. „Zeig es mir jetzt.“
Er lachte weich, sein Lachen besaß jedoch einen geringen Grad an Einfühlsamkeit.
„Nein.“
Helena starrte geradeaus, bewegte sich nicht in seinem Griff, bis er sich lockerte, sondern mahlte mit dem Kiefer, ohne sich zu widersetzen.
„Du bist nicht bereit. Vor allem nicht jetzt.“
Ehe sie es sich versah, hatte er die Distanz zweier großer Schritte zwischen sie beide gebracht und stand nun vor ihr. Kommen sehen hatte sie ihn nicht.
„Siehst du das Abendlicht?“, fragte er.
Er verwirrte sie damit, und sie vergaß, ein störrisches Geschöpf zu sein und hob den Blick der Sonne entgegen, die, so tief wie sie stand, ihren großen Bauch mit sich übers Firmament zog.
„Ja.“
Die nächste kleine Regung, die er tat – Helena studierte sie in Windeseile, und in dieser Sache war sie die Überlegene – verriet über ihn, dass er sich in etwas bestätigt fühlen musste, was er vorher schon erwartet hatte.
„Du starrst in die Sonne!“, rief er, da hörte sie schon seine Enttäuschung.
„Du hast mich gefragt ob -“
„Ob du das Abendlicht siehst. Das Licht fällt und bricht sich in vielerlei Weise, an vielen Stellen. Sein Einfall, seine Beschaffenheit, all das musst du zu verstehen beginnen. Und du baust immer noch auf das Offensichtliche.“
„Dann erklär es mir endlich, Vendetta.“
„Nein, ich hab keine Lust mehr.“ Er drehte sich salopp wie ein Narrenbursche auf den Fersen davon und ließ seinen Dolch verschwinden, und wieder sah Helena, obwohl sie ihn anschaute, nicht wohin.
„Erklär es mir!“
„Du hast offenkundig andere Dinge im Sinn.“
Der junge Mann hatte sie mit seiner Provokation eingefangen. Sie setzte ihm nach, um ihn, als er Anstalten machte zu gehen, von hinten zu erwischen. Ihre länglich geschnittenen, sich verengenden Augen versprühten ein stürmisches Feuer der Konzentration, aber sie konnte nicht – obwohl es zu ihren besten Talenten gehörte, schnell und ohne Laut zu sein – an ihn herankommen, ohne dass er es erwartete und sie hatte noch nicht begriffen, wo er plötzlich war, als er sich hinter sie geschoben hatte und sie im Nacken festhielt, mit dem Kopf nach unten drückte und lachte.
„Helena! Was machst du? Du bist so schlecht! Du vergeudest meine Zeit so noch mehr als wenn du gar nicht kommst.“
Womit er nicht gerechnet hatte war, dass sie sich unfair verhielt und nach ihm trat. So wurde sie ihn immerhin los.
Herumfahrend schaute sie ihm entgegen; dass sie dabei beleidigt aussah, erfrischte nur sein lächelndes Wesen.
„Bringst du es mir bei oder nicht?“
„Ich bring es dir bei“, sprach der junge Mann nach einer kurzen Weile. „Aber heute gehst du nach Hause. Es ist gerade so, als hättest du alles wieder verlernt, was ich dir schon gezeigt hab. Wenn du nicht voll und ganz hier bist, sondern deine Aufmerksamkeit irgendwo anders herumschwirrt, schaffst du keinen Zentimeter außerhalb meiner Sicht. Sei kontemplativ. Sei fokussiert. Und jetzt hau ab. Dein Gehampel beleidigt mich. Außerdem hast du mich getreten.“
„Du weißt ja nicht, wo ich eigentlich hingezielt habe, Vendetta.“
„Jaja, auf Wiedersehen, Helena.“ Er winkte ihr noch, sah aber gar nicht mehr zurück. Wenn man seinen Spazierschritt sah und wie er ziellos von Dannen schlenderte, konnte man sich gar nicht vorstellen, wie beherrscht er war.
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