Das rothaarige Mädchen schlich um ihn herum, striff mit ihren weißen Händen über seine Schultern und küsste sie. Er ignorierte sie vollkommen, stand dort in seinem dünnen, weißen Leinenhemd, das ihm über den Bauch und die Handrücken fiel, und betrachtete sich in einem Spiegel mit ebenhölzernem Rahmen. Er sah den Mann an, der die Entscheidung treffen musste. Es ließ sich jetzt auch nicht länger aufschieben. Sein Weg würde nach Götterfels zurückführen, dort würde er richten.
„Dein Vater hat mir Gutes von dir erzählt. Das hat er mir nicht erzählt.“
Er hörte dem Mädchen nicht zu. Er löste sich, nahm eine feine schwarze Weste auf und legte sie sich über den Arm. Sein Finger fuhr den Stoff ab.
„Adrian. Adrian?“
Erst jetzt hob er den Kopf und entsandte einen direkten Blick zu dem Mädchen mit den Kupferzöpfen. Ihre Augen standen, das war ihm schon gestern aufgefallen, etwas näher beieinander als gewöhnlich und eines war eine Idee schmaler als das andere, sodass ihr immer der ferne Anschein einer zweifelnden Geisteshaltung anhaftete, aber ihr Lächeln war sehr hingebungsvoll und sie sprach in den meisten Fällen nicht mehr als man von ihr erwartete. Ihre Nase, die einen breiten, flachen Rücken hatte und dennoch zierlich war, kräuselte sich an den Seiten, als sie sein hartes Starren, den herben, abwesenden Ausdruck darin sah, der sich nicht mit ihr beschäftigt hätte, hätte sein inneres Wesen, eine ihm eigene, ihn oft vor Schandbarkeit rettende Eigenheit, aufmerksam und gesittet zu sein, ihn nicht dazu gezwungen. Er drehte sich, legte die Weste wieder ab ohne sie anzukleiden und schob, als das Mädchen, deren Namen er bereits vergessen hatte, nach dem Stück gebräunter Brust langte, das unter seinem weiten Hemdkragen frei lag, ihre Hand fort.
„Du kannst gehen. Sag Revan, dass ich abgereist bin.“
„Ich hatte gehofft, du würdest noch etwas...“ Sie führte ihren Satz nicht zuende, denn er hatte sie, als sie so weit kam, bereits stehen lassen, ihr den Rücken zugewandt und auf der anderen Seite des Zeltes damit begonnen, Dinge zusammenzuräumen, so als wäre sie schon längst fort. So resignierte sie und ließ Adrian mit seinen Gedanken zurück.
Er musste eine Entscheidung treffen. Vielleicht hatte er das sogar bereits, hatte immerhin die Richtung bestimmt, in die es ging und soviel beschlossen wie er konnte, ohne die Einflüsse dessen mitzurechnen, was er heute noch hören würde. Victor hatte den Tod eines seiner eigenen Männer gefordert. So überzogen die Forderung aber war, so schwer war die Last der Taten, die Cionar, der nicht hören hatte wollen, der einen Schwur geleistet hatte, um sich dann über ihn und alles hinwegzusetzen, begangen hatte. Ungehorsam, Ignoranz, Respektlosigkeit und, am schlimmsten, Unehrlichkeit. Man erwartete von Adrian, mit einer gewissen Härte darauf zu reagieren, den Regelbruch zu ahnden und alles schlechte Verhalten zu vergelten. Er fragte sich jedoch, wo er beginnen und wo er enden musste. Victor hatte den Platz eines höheren Ranges, die damit verbundenen Rechte und Annehmlichkeiten und auch die Freiheit, sich auf eine Weise gegenüber Cionar zu verhalten, die ihm das Leben erschwerte, die er aber, da er sich auf die Sache eingelassen und Blut dafür gegeben hatte, ertragen musste. Ihm blieb tatsächlich nichts anderes übrig, als es zu ertragen, es zu schlucken und hinzunehmen und einzustecken, bis es vorüber war. So wurde es von allen erwartet, die sich beweisen mussten.
Aber Cionar hatte nicht hingenommen. Er hatte exaltiert, in übertriebener Weise trotzig und unloyal reagiert, sich von seiner inneren Schwäche, von irgendwelchen Qualen, die ihn seinen Stolz nicht hatten überwinden lassen können, übernehmen lassen. Adrians Vertrauen war damit erschöpft. So sehr er den Burschen verstand und sah, wo er sich übernommen und mehr geben wollen hatte, als er zu geben im Stande gewesen war, so herzlos war seine Überzeugung, dass ein jeder Ehrenmann sich auf den Kodex einzulassen, ihn unter allen Umständen strikt zu befolgen hatte. Allerdings, und hier begann die Situation ihre Verworrenheit, hatte Victor ebenso wenig in Adrians Sinne oder dem des Kodex gehandelt. Er hatte Dinge getan, die beklagenswert und falsch, außerdem aus einer Grausamkeit geboren waren, die Adrian in sich selbst und jedem Menschen anklagte und verachtete.
Es hatte Adrian ermattet. Er hätte diese Angelegenheit am liebsten von sich geschoben. Seine Männer angewiesen, sich, wie er es von ihnen erwarten konnte, zusammenzureißen, ihre Arbeit zu tun, und, wenn sie schon nichts außer Beschwerden zu machen hatten, ihr Maul zu halten. Es war aber wieder einmal die Natur der Leute, sich in künstlicher Weise unnötig zu erregen, und so hatte Victor bei einem Ehrenmann über die Stränge geschlagen, wobei dieser Ehrenmann wiederum seine Strafe schon verdient hatte, nur hätte sie zuerst abgesegnet werden, von Adrian genehmigt sein müssen. Über die Schläge war er bereit, hinwegzusehen. So hatte Victor Cionar eben verprügelt, niemand konnte ihm sagen, dass es nicht angebracht war. Aber was danach kam ging zu weit. Es war Ungehorsam, ein Ungehorsam Adrian gegenüber seitens Victor, den dieser gleichwohl nicht einsah, nicht zu erkennen imstande war. Und jetzt machte er große, überzogene Forderungen und fühlte sich, wie Adrian befürchtete, dazu berechtigt, war vielleicht bereit, ein schlechtes und dummes, blindes Urteil zu fällen, wenn man seinem übertriebenen Verlangen nicht nachgab.
Adrians Blick war düster, als er zum Zelteingang fiel.
Dort draußen standen ein paar Männer seines Vaters. Wäre es an Nicolae gewesen, diese Entscheidung zu treffen, es hätte zwei Tote zu beklagen gegeben. Aber Adrian musste anders handeln als sein Vater. Er musste anders sein. Er musste das unmögliche Kunststück hinbekommen, eine Strafe auszusprechen, die sowohl Victors als auch Helenas Loyalität weiterhin an ihn band und deren Respekt nicht verwirkte, die ihn nicht verweichlicht, gleichsam nicht zu hart, gerecht, aber als jemanden dastehen ließ, mit dem sich anzulegen eine sehr schlechte und ausgesprochen unratsame Idee war. Seitdem Cionar einen von Helenas Leuten geschlagen und ihr Herzblut aufs Spiel gesetzt, seitdem sie sich für ihren Mann verschlossen und innerlich halb von ihm abgewandt hatte, war es für Adrian noch schwerwiegender, einen mittleren Weg zu finden, denn bei all der Enttäuschung und Ernüchterung, die über Leons jüngere Schwester hereingebrochen war, musste es doch immer noch so sein, dass sie gewillt war, sich mit allen anzulegen, die Cionars Leben wahrhaftig bedrohten. Er hatte mit Helena gesprochen und war, so musste er sich selbst gegenüber eingestehen, überrascht gewesen von der Reife und Härte ihrer Reaktion. Sie wollte eine Strafe und stand mit einem derartig vergrämten Ingrimm hinter dieser Familienregel, dass Adrian wusste, Cionar musste zu weit gegangen sein. Er hatte einmal zu oft Helena als diejenige dastehen lassen, die sich mit Leib und Seele für ein nutzloses Unterfangen vor die Wölfe warf, nur um nachher als das Schaf angesehen zu werden, das sich leichtgläubig an der Nase herumführen ließ. Jedes Mal wenn er frech gewesen war, wenn er eine Regel missachtet oder schlechtes Verhalten gezeigt, das die Skeptiker in ihrem Zweifel an Cionars Überzeugung bestärkt hatte, hatte Helena sich vor ihrer Familie verantworten, hatte für seine Taten bezahlen müssen. Jetzt schien sie müde zu sein. Helenas Geduldsfaden war der eine seidene, an dem alles hing. Wenn er riss, wenn sie sich für den Angeklagten verschloss, konnte auch Adrian Cionar nicht mehr retten. Helena war es allerdings gewesen, die mit Informationen an ihn herangetreten war, die ihn letztlich nach Löwenstein, hierher zu seinem Vater geführt hatten, wo er womöglich Dinge in Gang gesetzt hatte, die bald schon außerhalb seines Einflusses lägen. Er würde vielleicht den Störrischen seinem Schicksal überlassen, ihm die härteste Strafe und größte Chance geben. Helena hatte gebangt, sie hatte den Kopf geschüttelt und ihn mit blassem, drängendem Blick gebeten, davon abzusehen, nur um dann zu erzürnen und ihn in seiner Idee zu bestärken, bis der Zweifel sie erneut mit sorgenvollen Lippenbissen und gerungenen Händen einholte; da hatte er gesehen wie verwirrt und aufgebracht sie war, wie sie ihn lieben und hassen musste für alles, was passiert war. Nach allem fand Helena einen Weg, der Familie und diesem Mann loyal zu bleiben, die Folgen zu ertragen und damit umzugehen. Nur wer sie lange kannte war imstande zu sehen, welche Marter ihr dieser Rat auferlegte. Bei Adrian war es anders. Auch diejenigen, die ihm am vertrautesten waren, ließ er nicht zu sich hin, keinen Blick darauf werfen, welche Zweifel ihn umtrieben. Er würde so gnadenlos sein wie er musste, wenn der Rat tagte und sich bei seinem Schiedsgericht nicht erweichen lassen. Doch er würde nicht, nur um einem Anspruch zu genügen, ein Urteil fällen, hinter dem er nicht stand, gleich welcher Art.
„Adrian?“
Er wandte sich um. Diesmal war es Antonia, deren Stimme er vom Zelteingang aus erkannte.
„Es ist alles fertig. Wir haben uns nebenher darum gekümmert, die losen Enden von gestern Abend zu schneiden.“ Richtig, er sah, dass sie gebadet und die Kleider gewechselt hatte. „Ich bin bei meinem Vater, wenn du mich brauchst.“
„Danke, Toni. Gib mir fünf Augenblicke.“
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