„Geh runter von mir.“
Er war viel zu schnell gewesen. Sie hatte noch seinen Fuß entlang ihres Oberschenkels gespürt, dann die Kante seines Beins unter ihrem Bauch. Aber da war sie bereits in einem Rad durch die Luft geflogen und auf der anderen Seite zu seinen Füßen auf den Rücken geprallt. In ihren Armen hallte noch ein Kontakt nach, deshalb glaubte sie, dass er sie wohl dort berührt haben musste, aber er war längst nicht mehr dort. Er war jetzt über ihr, und während er sie mit seinem Körper am Boden fixierte, schnitt sein Arm wie eine Schranke, die quer auf ihren Hals drückte, einen Teil ihrer Luft ab.
„Geh runter von mir, Vendetta.“
„Sorg dafür, dass ich runter gehe“, sagte er mit einem zärtlichen Ton von Aggression, den er zwischen seinen Zähnen hindurch presste wie die süßeste Einladung und die unausstehlichste Provokation. „Glaubst du einer, der dir wirklich Übles will, hört auf deine Befehle?“
Sie vibrierte leicht unter ihm, als sie in Aufbringung all ihrer Konzentration eine pointierte, rasche Bewegung machte, die so ruckartig wie unmittelbar war; allein, sie reichte nicht aus, ihn los zu werden.
Des jungen Mannes offene grüne Augen engten sich voller Fragen.
„Du versagst ja immer noch.“
Es war, als er sich von ihr rollte und der Druck an ihrem Hals und Schlüsselbein nachließ, nicht erlösend für sie.
„Du bist zu schnell.“
„Es gibt kein zu schnell, es gibt nur zu langsam.“
„Ich kann mich verteidigen, ich bin gut in der Defensive, sie ist nicht meine Schwäche.“
„Ja, da stimmt sogar. Aber wenn man dich einmal hat, dann hat man dich.“ Er reichte ihr die Hand zum Aufstehen. „Du verlässt dich zu sehr darauf, nicht erwischt zu werden.“
Sie nahm sein Angebot an, und als sie sich halb in die Höhe gestemmt hatte, spannten seine Finger ihre urplötzlich grob ein und rissen daran, aber diesmal vertraute sie ihm nicht mehr. Helena konnte nicht voller Stolz behaupten, jeden Fehler in ihrem Leben nur ein einziges Mal gemacht zu haben. Aber diesen würde sie nicht wiederholen. Sie hatte seiner rechten Hand von Vornherein die linke gereicht, und damit ihre eigene rechte frei, um sie auf seinen Griff zu legen. So bekam sie ihren linken Oberarm in seine Ellenbeuge, drückte seinen Arm nach unten und zog ihn in derselben Bewegung, indem ihr gesamter Körper diesen Aufwand energetisch unterstützte, zu sich hin. Der Halbkreis, in dem sie sich drehte, senkte sie in eine kniende Haltung, in die er gezwungen war mitzugehen, die ihn außerdem zwang, loszulassen. Diesmal lag er auf dem Boden. Das Lächeln, mit dem sie ihn danach bedachte, hatte den süßen Nektargeschmack des Triumphes und die unverdorbene Natürlichkeit einer ganz aufrichtigen, ambrosischen Freude.
„Ich hoffe, das hast du nicht mit Absicht gemacht“, sprach sie quirlig. Im Gegensatz zu ihm half sie Vendetta nicht auf. Weil der Mann vom Unheil außerordentlicher Spontaneität gesegnet war, sich also niemals sagen ließ, wann er plötzlich direkt vor einem war und einen schon wieder an der Hand hatte, erkannte sie das Risiko, ihren Durchbruch gegen ihn nachträglich noch verdorben zu wissen, als viel zu groß. Er kam ohne sie mit einem Sprung auf die Beine, lächelte wehmütig und sah sie aus den Gesichtszügen eines schönen Narren an, wie die komische und tragische Person eines Lustspiels, das die meisten Leute unterhielt, ohne dass sie seine eigentliche Aussage, seinen essenziellen goldenen Gehalt je verstünden.
„Ich lasse nie jemanden absichtlich gewinnen.“
„Lügst du jetzt?“
„Ich bin kein Lügner.“
„Und wenn du ein Lügner wärst?“
„Würde ich sagen 'ich bin kein Lügner'.“
„Das hast du richtig erkannt.“
„Du ebenso.“
„Herzlichen Glückwunsch.“
„Danke, gleichfalls.“
Sie erging sich in Schweigen, er tat es ebenso und beachtete sie dabei nicht. Fast nichts von dem was er ausstrahlte war plump und einfach erfühlbar, mit Ausnahme seines Desinteresses daran ihr zu gefallen.
„Zeigst du mir heute das mit den Schatten?“
„Hast du deine Konzentrationsübungen gemacht?“
„Ein bisschen.“
„Was soll das heißen: Ein bisschen. Es gibt kein bisschen. Man kann auch nicht ein bisschen tot sein oder ein bisschen Mensch. Man ist es oder man ist es nicht. Entweder du hast sie gemacht oder du warst ungenügend.“
„Ich hab sie nicht so oft wiederholt, wie du gesagt hast.“
„Das zähle ich als nicht gemacht.“
„Ach Vendetta!“, klagte sie und wusste bereits, dass kein Vergiss-mein-nicht blau gefärbter Blick, kein rosafarbener geschürzter Mund und auch kein harscher Befehl des imponierendsten Formates ihr etwas halfen. „Du bist selbst manchmal ein bisschen ungenügend.“
„Mann kann auch nicht 'ein bisschen ungenügend' sein. Dein Willen, nicht in Schwarz oder Weiß zu denken in Ehren, aber manche Dinge sind schwarz und manche sind weiß. Ich habe übrigens deine Freundinnen getroffen. Die Contessa Di Saverio und Elizabeth Rawson.“
„Du hast ….was? Warum? Wann? Wo? ...Warum?“
„Die eine kam des Nachts allein in eine Taverne, die andere kam hier raus, um auf Melonen zu schießen. Da oben.“ Sie folgte mit ausdrücklicher Überraschung seinem Fingerstups den Hang hinauf. Zuerst schien ihr keine Antwort angemessen.
„Und habt ihr über mich gesprochen?“
„Es geht nicht immer nur um dich, Helena.“
Der Satz schlug ihr mit mehr Nachdruck gegen die Brust als es anhand der milden Hohneshärte, mit der er sprach, gerechtfertigt gewesen wäre. Sie hatte ihn erst neulich gehört, gesprochen von einem anderen.
Dass sie sich daraufhin in sich kehrte war an dieser Stelle nicht das klügste Manöver, denn sie lockte damit mehr als mit allem anderen, was sie hätte tun können, Vendetta Rubinsteins Blick, und endlich hauchte darin die Aspiration einer Wissbegierde, die sich allerdings nur ihrem Leid, nur jenen Dingen verschrieben hatte, die sie nicht mit ihm teilen wollte. Sein ehrgeiziges Faible für, seine Teilnahme an, sein Hang zu den versteckten Sehnsüchten anderer, die Schlüssel waren zu den tiefliegenden Geheimzimmern ihres Selbst, war eine Delikatesssucht an ihm, die sie nicht sättigen wollte. Sie hätte wissen müssen, dass er es liebte, an Seelen zu zehren, gleichzeitig konnte er nichts von einem Wesen erzwingen, er bekam nur das, was man ihm freiwillig überließ, sein Lächeln und Blick allein lockten und flüsterten und luden einen zu sich ein, er sprach mit kalter Sanftheit und konnte in manchen Momenten scheinen wie der unglaublichste Balsam, der lindernde anonyme Trost, die treue und einzig dir verschriebene Stimme der Vertrautheit, dein Gewissen. Aber wenn man sich dann in einem klaren Moment bewusst machte, dass er nur ein Teufel war, ein morbider Romantiker eines innerlichen, ungestillten Begehrens, der sanft Hand an dein Empfindungsleben legte, um es aufzuklappen und fortzuschälen, es zu besitzen und darüber zu verfügen...-
„Helena?“ Er stand plötzlich neben ihr und sah sie von der Seite her an. Seine kleine Nase schmälerte sich wie so oft, wenn er sein befremdetes, angenehm zartes und nichtsdestotrotz unverschämtes Lächeln sehen ließ. „Warum schaust du so?“
„Ich habe mir gerade über dich gedacht“, sprach sie nachdenklich. Es störte sie nicht, dass ihre Worte besinnlich akzentuiert waren, und dass er sich daran ergötzte. „Dass du wie ein Schnitter bist, der einen zum Abgrund hinlockt. Ich hab noch nicht rausgefunden, warum.“
„So siehst du mich?“
„Ja?“, erwiderte sie zart, aber sie hatte keine Zweifel daran.
„Dir ist klar,“ - Sie hatte es nicht gleich gespürt, aber er hatte sich mit drei schnellen Sprüngen rückwärts von ihr entfernt - „dass du damit viel mehr über dich aussagst als über mich?“
„Hab ich also Unrecht?“
„Natürlich.“
Und wenn er ein Lügner wäre?
„Warum willst du dann nicht mit Gold bezahlt werden?“
„Weil Gold etwas ist, was deinesgleichen leicht hergeben kann.“
Was er auch sagte, es bestätigte sie doch nur in ihrem Bild, wenn sie daran zurückdachte, was er zum Lohn für seine Ausbildung gefordert hatte.
„Deine Freundin Elizabeth hat etwas Essenzielles begriffen, Helena.“
„Und was?“
Er schrägte die Lippen zu einem fehlbaren Lächeln und es perlte davon ab der freche Liebreiz eines Mannes, der unabhängig war.
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