Ende des Stecklings im Jahre 1312 NE, 7 Jahre bevor es das Asuraportal in Ebonfalke gab……
Die beschlagene schwere Eichentüre glitt mit einem leisen Klacken in‘s Schloss und die sich draußen im Flur entfernenden, klackernden Schritte verklangen nach und nach. Ohne eine Regung und mit angehaltener Luft saß das kleine Mädchen am Schreibtisch auf dem viel zu großen Stuhl und lauschte angespannt. Als sie sicher war, dass niemand mehr hinter der Türe lauerte, rutschte sie von der Sitzfläche. Sie packte den Stuhl an der hohen Lehne, die sie nicht mal auf Zehenspitzen hätte überblicken können, und zog ihn unter Ächzen und Stöhnen hinüber zum Fenster. Laut schliffen die hölzernen Stuhlbeine über den polierten Boticcino classico, bis der Stuhl so stand, wie sie ihn haben wollte. Sie raffte die vielen Lagen Taftunterröcke, die ihr roséfarbenes Kleid zu einem roséfarbenen Albtraum machten und kletterte mit den Knien voran auf den roten Samtbezug der Sitzfläche. Bevor sie sich jedoch mit den Füßen aufstellte, streifte sie die weißen Lackschühchen ab.
Im Stehen öffnete sie beide Flügel des hohen, weiß lackierten Kastenfensters. Mit ausgebreiteten Armen, die Hände lagen auf den Fenstergriffen, stand sie da und atmete tief die laue, spätsommerliche Luft ein. Es roch nach Kohl. Sie verzog die Nase. Die Bauern fuhren die Ernte dieses Jahr früh ein, es war ein warmer und regenreicher Sommer. Das Land hatte über die Jahrzehnte viel Krieg und Zerstörung mitgemacht und erholte sich nur langsam von den Strapazen. Nicht viele Lebensmittel ließen sich ertragreich anbauen. Kohl war eines der wenigen. Sie hasste Kohl. Ihre himmelblauen Augen schweiften in die Ferne, womit sich Enttäuschung auf ihrem blassen, zarten Gesicht ausbreitete. Weiter als bis zu dem riesigen grauen Schutzwall, der die Feste umgab wie die steinernen Wände einer Gruft, konnte man nicht blicken. Keine Weiden und Wiesen, keine Wälder und Flüsse. All das war außerhalb von Ebonfalke, da wo es nicht sicher war. Ihre Enttäuschung ward jedoch nicht lang, denn ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt von lauten Kinderstimmen.
Ein hübscher, kleiner Junge mit goldenem Haar und ein etwas größeres, leicht rundliches Mädchen mit langem, dunklem Haar spielten im Hof. Die ersten Vorboten des Herbstes waren bereits zu sehen. Auf dem steinernen Boden des Hofes lagen vereinzelt schon herabgefallene Blätter in goldener und roter Färbung. Albert mimte gerade den großen, bösen Charr der sich mit seinen Klauen auf die Jungfrau Larissa stürzen wollte. Bei seiner Verkleidung hatte er sich sehr viel Mühe gegeben. Mutters guter Zobelkragen Machten einen guten Bestienkopf. An den Fingern trug er Mutters schwarze Seidenhandschuhe, durch die er einige sorgfältig gereinigte, angespitzte Hühnerknochen als Krallen gesteckt hatte. Die Jungfrau reagierte jedoch etwas anders als man sich das vorstellen würde. Larissa lachte, schloss ihn fest in die Arme und wollte ihn sogar küssen.
Die Beobachterin am Fenster verdrehte die himmelblauen Augen, formte die kleinen Hände zu einem Trichter vor dem Mund und rief laut in den Hof. „Larissa du dummes Huhn! Das ist nicht Korporal Diam, der dir zur Rettung eilt. Das ist ein Charr! eine Bestie! Vor einem Charr rennt man davon, wenn man ihn nicht töten kann!“ Während Larissa ein betretenes Gesicht machte, winkte Albert fröhlich mit den schwarzen Seidenhandschuhen und den Hühnerknochen zum Fenster. „Gwen komm doch runter und zeig ihr wie man das spielt!“. Kurz sah das Mädchen am Fenster hinter sich zur Türe, dann blickte sie zurück in den Hof und schüttelte traurig den Kopf. „Mutter wird das nicht gut heißen. Ich hab noch zu tun!“ Fast im Selben Augenblick hörte sie, wie sich das leise Klackern von Absätzen der Türe hinter sich wieder näherte. Rasch schloss sie die Fensterflügel und sprang vom Stuhl. Sie schlüpfte wieder in ihre Lackschühchen und schob den Stuhl unter große Anstrengung zurück zum Schreibtisch.
Abermals erklomm sie die Sitzfläche und setzte sich artig hin. Während ihre weißen Lackschühchen gut 10 cm über dem Boticcino classico baumelten, hingen ihre goldenen Zöpfe über dem verstaubten Buch. Schnell überflog sie die Zeilen als auch schon die Türe aufgeschoben wurde und Magdalena hereintrat. Wie immer trug sie die honigfarbenen Haare streng hochgesteckt. An kostbarem Geschmeide und rotem Lippenstift hatte sie nicht gespart. „Bist du fertig mit dem Kapitel Gwennis?“ Magdas spitze, kühle Stimme durchbrach den Raum. „Ja Mutter, aber…wieso muss Larissa das nicht lernen? Warum darf Sie draußen mit Albert spielen?“ Die Stimme der Achtjährigen war sanft und zurückhaltend. Mit ein paar schnellen Schritten war Magda neben ihr am Schreibtisch. Ihre knöchrige, langfingrige Hand umschloss schmerzlich fest ihre kleine Schulter und schüttelte sie durch. „Kind, begreifst du denn nicht…das hier ist zu Deinem Besten. Larissa ist alles, was Dein Vater von seiner ersten Frau noch hat. Er liebt sie auch wenn sie dumm wie ein Skritt ist und Ähnlichkeit mit einem Dolyak hat. Wir… mein Kind, müssen uns die Liebe Deines Vaters verdienen!“.
Die Hand an ihrer Schulter lockerte sich wieder etwas. „Also, wann war das große Feuer und wann wurde Ebonfalke gegründet?“ Das Mädchen rutschte verhalten auf dem Stuhl umher und ihre Stimme klang unsicher, als sie begann die Antwort aufzusagen. „Der große Nordwall, errichtet 898 Nach Exodus war einst eine gewaltige Mauer, die Ascalon mittig durchtrennte. Er reichte von den Zittergipfeln im Westen bis zu den Flammenkamm-Bergen im Osten. 1070 Nach Exodus wurde der Nordwall in Folge der Charr-Invasion von dem Großen Feuer fast vollständig vernichtet. 10 Jahre Später wurde unsere Zuflucht Ebonfalke von Hauptman Gwen Thackeray begründet„. Ein selbstzufriedenes Lächeln umspielte für einen kurzen Augenblick Magdalenas Lippen. „Ja das ist richtig. Hauptmann Thackeray war im Übrigen dein Namenspatron. Dein Vater wollte dich nach ihr benennen. Da ich Gwen etwas plump für eine Dame von Stand finde, haben wir uns auf Deinen schönen Namen geeinigt.“
Magdalena klatschte auffordernd in die Hände. „So, und jetzt üben wir noch einmal deine Haltung und deine Bewegungen, sie sind immer noch viel zu… wie ein Trampel bewegst du dich. Wie willst du damit je einen Mann für dich einnehmen. Steh auf junge Dame!“ Gwennis rutschte wieder vom Stuhl hinab und stellte sich aufrecht vor ihrer Mutter, zumindest kam es ihr so vor. „Die Schultern mehr zurück!... Das Kinn etwas höher… ja spann den Hals etwas an.“ Magdalena umrundet ihre Tochter mehrfach und korrigierte mit Worten und auch durch Handanlegen ihre Haltung. „Dein Vater wird heute Abend mit uns essen. Du solltest ihm erzählen, was du heute gelernt hast.“ Das Kind gab sich alle Mühe, der Mutter zu gefallen. „Ja, Mutter!“
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