Ende des Stecklings im Jahre 1310 NE, 9 Jahre bevor es das Asuraportal in Ebonfalke gab……
Die ersten Sonnenstrahlen vielen in den, von hohen Mauern umgebenen, Innenhof und trafen zwischen dem kahlen Geäst der großen, alten Kastanie das stattliche Haus. Sie drangen durch die oberen Fenster im Ostflügel und streckten ihre wärmenden Fingerspitzen zärtlich nach dem kleinen Mädchen aus, dass hinter einem hauchzarten Schleier, lavenderfarbener Seide in ihrem Himmelbettchen schlummerte. Den Kopf auf ein Meer weicher Federkissen gebettet, ergoss sich ihr volles, gesundglänzendes Haar in goldenen Wellen rings um. Die dichten, dunklen Wimpernkränze des Mädchens begannen zu flimmern und zu zittern. Ihre eben noch so selig anmutenden Lippen verzogen sich zu einem kleinen mürrischen Schmollen, bevor sich der Kopf mit einem leisen Brummen von der Fensterseite des Zimmers abwandte. Der Morgen kam für das zarte Geschöpf wie immer unbarmherzig und viel zu früh.
Doch jäh wurde die Ruhe von Hektik durchbrochen, als sich das Mädchen plötzlich ruckartig im Bett aufsetzte und die Bettdecke gleichzeitig aufschlug. Die himmelblauen Augen weit aufgerissen, starrte sie zum Fenster. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie ihre Gedanken gesammelt hatte und aus dem Bett gesprungen war. Mit wehendem, weißem Nachthemdchen, barfuß eilte sie zur Türe und stolperte auf den Flur. Sie rannte über den kalten, schwarzen Marmorboden und stoppte vor einer Türe. Atemlos rufend stürzte sie in das Zimmer, auf ein Himmelbett zu und riss den dunkelblauen Seidenvorhang mit beiden Händen auf.
„Albert! Albert! Wach auf du Schlafmütze. Vater nimmt uns heute mit zum Erntefest.“
Sie starrte verdutzt auf das leere, noch zerwühlte Bett, hielt sich aber nicht lange damit auf und sprang mit anhaltender Euphorie wieder zur offenen Türe. Die Vorfreude ungebremst, rannte sie den Flur weiter entlang bis zur nächsten Türe, die bereits offen stand.
„Larissa! Larissa! Wir fahren zum Erntefest!“
Ihre helle, vor Aufregung quietschende Stimme hallte laut von den holzgetäfelten Wänden des Zimmers wieder. Das einfache Bett darin war ordentlich gemacht. Auch dieses Zimmer war verlassen. Durch das offene Fenster kam die kühle Herbstluft herein und noch etwas anderes. Das laute Poltern von Kutschrädern drang vom steinernen Innenhof herauf. Geschwind lief sie zum Fenster und sah verständnislos auf die Kutsche hinab, die gerade den Hof verließ. In dem offenen Gefährt saßen ihr Vater und ihre beiden Geschwister. Während sie oben am Fenster in den Hof sah und die Welt nicht mehr verstand, wurden die schweren, beschlagenen Tore hinter der Kutsche wieder geschlossen.
Die Enttäuschung lähmte ihre Glieder, als sie sich vom Fenster abwand und mit schleppenden, verdrossenen Schritten hinüber zu Larissas Schreibtisch ging. Matt ließ sie sich auf den Stuhl der älteren Schwester nieder und schaute lustlos über ihre Habseligkeiten auf dem Schreibtisch. Ihr Blick blieb bei einer Delphinfigur hängen, mundgeblasenes orrianisches Glas. Sie nahm die filigrane Arbeit in ihre Hände und betrachtete sie mit einem unversöhnlichen Blick. Vater hatte Larissa den Delphin von einer Reise mitgebracht. Albert hatte Schwert und Schild aus Holz bekommen. An sie, an Gwennis hatte er nicht gedacht. Mit der Kraft ihrer Wut und einem befreienden Schrei, pfefferte sie nun die Figur an die Wand, wo sie in tausend kleine Scherben zerbrach. Ihre Augen sprühten vor Genugtuung. Sie wollte sich gerade abwenden, da entdeckte sie die kleine Kristall-Etagere auf dem Schreibtisch, die randvoll bestück war, mit gezuckerten Pralinenkugeln.
Sie schloss die Augen, hob ihre Nase ganz nah über die Etagere und sog tief die Luft ein. Der süße, feinherbe Schokoladenduft stieg in ihren Nasenflügeln hinauf und weckte das verbotene Verlangen. Langsam schwebte ihre Hand über der Etagere und erwählte eine der gezuckerten Kugeln, die besonders ebenmäßig geformt war. Sie drehte sie zwischen ihren Fingern, hielt sie gen Fenster ins Licht und betrachtete mit verzückten himmelblauen Augen, wie verlockend der Zucker im Licht glitzerte. Das anerzogene schlechte Gewissen keimte in ihr auf. Und so focht sie einen inneren Kampf mit sich aus. Sollte sie sich über das Verbot ihrer Mutter hinwegsetzen? Würde sie es merken. Ja sie würde es ganz sicher wissen. Nichts konnte sie ihr verheimlichen. Sie schüttelte den Kopf und legte brav die Praline dann doch wieder zurück. Zucker klebte an ihren Fingern, die sie instinktiv mit dem Mund davon befreite. Ihre Geschmacksnerven explodierten förmlich vor Freude, als sich die feinen Zuckerkörner, die noch das feinherbe Aroma der Schokolade an sich hatten, auf ihrer Zunge zerschmolzen. Und plötzlich waren ihre Finger wieder an der Pralinenkugel, hoben sie an und führten sie langsam zu den Lippen.
„Gwennis! Was tust du da?“
Gerade als sie den süßen Zucker schon körnig an ihren weichen Lippen spürte, zerschnitt die helle, leicht angeraute Stimme ihrer Mutter die Stille. Etwas Bedrohliches schwang darin mit. Gwennis erstarrte und ließ die Praline fallen. Sie prallte von der Schreibtischkante ab, hüpfte auf den Boden und kullerte unter einen Schrank, als suchte sie dort ein Versteck vor der strengen Frau.
Magdalena durchmaß den Raum mit langen anmutigen Schritten, griff fest nach dem Handgelenk ihrer Tochter, zog sie daran vom Stuhl und drehte sie wirsch zu sich herum. Sie neigte sich nicht zu ihr hinab, sondern blieb aufrecht stehen.
„Bist du noch bei Sinnen? Wie oft habe ich dir gepredigt, wie ungesund das ist, wie gefährlich für deinen Körper? Willst Du aussehen wie Larissa, fett und schwabbelig. Begreifst du denn nicht, wie viel davon abhängt Gwennis. Du bist meine Tochter, mein Fleisch und Blut. Ich dulde nicht, dass du deine Zukunft zerstörst, die ich für dich geplant habe.“
Auch im Zorn behielt Magda die Kontenance. Sie schrie nicht. Ihre Stimme war ruhig, aber von schneidender Kälte. Sie war versucht ihrem Kind eine schallende Ohrfeige zu geben, die ihr im Gedächtnis bleiben sollte. Aber sie würde nicht riskieren ihr hübsches Gesicht zu entstellen. Sie betrachtete die Etagere mit Pralinen für einen Moment und wurde dann wieder sanfter. Sie hatte einen anderen viel lehrreicheren Plan ins Auge gefasst.
„Ich verlange wirklich nicht viel von dir. Und alles was ich verlange hat einen guten Grund. Ich will, dass du es einmal gut hast.“
Magdas Stimme klang nun hoffnungsvoll und noch sanfter. „ Du wirst einmal ein sehr schönes Leben führen Gwennis. Hörst du! Fernab von diesen verschimmelten Mauern und jetzt geh! Zieh dich an. Es gibt etwas zu tun. Ich habe mir Schnittblumen und Grün und Zweige bringen lassen. Ich zeige Dir, wie man daraus eine ansprechend Tischdekoration arrangiert.“
Magdas Worte verfehlten ihr Ziel nicht. Voller Reue und Schuld blickten die großen himmelblauen Augen ihrer Tochter zu Magda hinauf. „Verzeih mir Mutter.“ Sie machte einen anständigen Knicks und wand sich zur Türe. Dabei begradigte sie noch ihren jungen Rücken und ging hocherhobenen Hauptes, viel zu stolz für ein sechsjähriges Mädchen, aus dem Zimmer.
Magdalena nahm die Etagere an sich und trug sie mit sich nach unten in den Bankettsaal, wo bereits die Schnittblumen und Gewächse für sie bereitgelegt worden waren. Sie stellte die Etagere neben sich auf den Tisch und ließ ihren Blick über die verschiedenen Pflanzen schweifen, bis sie entdeckte was sie gesucht hatte, einen Zweig Seidelbast. Sie griff nach den ledernen Schutzhandschuhen, die auf dem Tisch lagen und zog sie über. Dann zupfte sie ein paar der kleinen roten Beeren von dem Seidelbastzweig und begann Beere für Beere zwischen den Fingern über den Pralinen zu zerdrücken. Ihr Saft tropfte heraus. Die Leeren Beeren entsorgte sie am Fenster. Dann drehte und wendete sie die gezuckerten Pralinenkugeln, bis der Zucker den Saft der Beeren aufgesogen hatte. Man sah nun nichts mehr von der Veränderung. Gerade rechtzeitig. Denn hinter ihr vernahm sie bereits die kleinen trappelnden Schritte ihrer Tochter.
„Da bin ich Mutter.“ Erklang auch schon neben ihr am Tisch die zarte Kinderstimme.
Magdalena setzte ein versöhnliches, verständnisvolleres Lächeln auf und ging vor ihrer Tochter in die Hocke. Sie sah zufrieden an den ordentlich hergerichteten, goldenen Zöpfen herab, die ihre kleine Tochter sich ganz eigenständig hatte geflochten. Ihre Stimme quoll über von gespielter Großherzigkeit, während sie zärtlich einen der Zöpfe durch ihre Hände gleiten ließ.
„Ich verzeihe Dir Gwennis. Ich möchte aber, dass Du verstehst warum ich so erpicht darauf bin und ich möchte, dass du es dir sehr gut einprägst.“
Zu diesen Worten nimmt sie die Etagere mit den gezuckerten Pralinen vom Tisch und hält sie Gwennis vor die Nase.
„Hier, du sollst von den Pralinen kosten. Du wirst sehen, sie schmecken gar nicht so gut wie sie aussehen.“
Den blauen Kinderaugen war das Erstaunen über die plötzliche Wendung anzusehen. Dankbar und ohne jeden Argwohn lächelte sie ihre Mutter an. Das Vertrauen eines Kindes war so leicht zu hintergehen. Das Mädchen ließ es sich aber nicht zweimal sagen und griff sich mit beiden Händen je eine Praline von der Etagere. Sie betrachtete die glitzernde Zuckerschicht mit strahlenden Augen und biss dann vorsichtig in die Praline. Süß und herb entfaltete die zartschmelzende Schokolade auf ihrer Zunge das Aroma. Es schmeckte herrlich, unvergleichlich. Sie verschlang auch den Rest der Praline und die in der zweiten Hand. Magda beobachtete Sie prüfend dabei, ihr Lächeln war mittlerweile verschwunden und Ernst an dessen Stelle getreten. Gwennis wollte noch einmal zugreifen, da jedoch entzog Magda ihr die gefährliche Süßigkeit. „Das ist genug, wir wollen nicht übertreiben.“ Das Mädchen machte ein verdrießliches Gesicht, bettelte aber nicht nach mehr, denn es wusste, dass die Mutter sich darin nicht erweichen ließ.
Sie begannen die Blumen zu verarbeiten. Gwennis reichte ihr die gewünschten Blumen und Magdalena richtete sie geschmackvoll in einer Vase an. Sie erklärte ihr dabei die Dinge, auf die man achten musste. „Lass an den Rosen nicht so viel von dem Blattwerk, das lässt die Blüten später schneller welken. Ich fülle die freien Stellen zwischen den Blütenköpfen mit anderem Grün aus. Farn oder Schleierkraut passen zum Beispiel sehr gut. Es ist wichtig, dass.....Gwennis? …. Kind?„
Mit einem abschätzenden Blick, der weniger Besorgt als Erwartungsvoll war, sah sie hinab auf ihre Tochter, die plötzlich kreidebleich im Gesicht war. Kleine Schweißperlen standen ihr auf der Stirn und sie hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hände auf den Bauch gepresst.
„Mein Bauch… es tut schrecklich weh!“ Wimmernd taumelte sie ein paar Schritte Rückwärts gegen einen Stuhl. „Mein armes Kind….“ Mit gespielter Sorge strich sie ihr eine Strähne aus dem Gesicht und half ihr beim Hinsetzen. „Siehst du, das machen die Schokolade und der Zucker. Ich habe es dir ja gesagt, sie ist schädlich. Jetzt glaubst du mir nicht wahr?“
O süßer, treuer Kinderglaube,
sei nur getrost, Du reine Taube.
Die Passende Musik gefällig...
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