Nicht bewegen. Nicht atmen. Nicht loslassen. Für mehr als diese drei Sätze schien in ihrem Kopf kein Platz mehr zu sein. Da waren Stimmen hinter ihr. Aufgeregte Stimmen. Bewegung und auch eine Berührung. Doch aus irgendeinem Grund schien es als wären jegliche Sinne wie in Watte gepackt. Alles wirkte dumpf, wie in weiter Ferne, wie Teil von jemand oder etwas anderem. Alles bis auf die Tiefe, die ihr höhnisch entgegenblickte und sie zu beobachten schien, nur darauf wartete das ihr Griff nachließ und sie dem Ruf des Molochs nachgab.
Nicht bewegen. Nicht atmen. Nicht loslassen. Mit der linken Hand hatte sie sich an eine der hölzernen Stufen geklammert auf denen sie nun lag. Verwunderlich das die Stufe unter ihrem Griff nicht einfach splitternd zerbarst, wie diejenige mit deren Tritt sie diesen Fall begonnen hatte. Sie hatte das Gefühl alle Kraft die noch irgendwo in ihrem Körper war zentrierte sich nun auf diesen einen Punkt. Nicht loslassen. Und immer noch war da diese Hektik in ihrem Rücken die sie noch nicht sah, aber instinktiv spürte. Was taten sie da? Sie mussten weg! Spürten sie nicht wie die Tiefe an ihnen zerrte und den gierigen Schlund geöffnet hatte um sie alle zu verschlucken?
Bewegen. Nicht atmen. Nicht loslassen. Sie wandte den Kopf langsam nach hinten, als würde schon diese winzige Bewegung ausreichen um die letzten dünnen Fäden an denen das Brückenstück hielt endgültig zu zerreißen und sie in die lauernde Tiefe stürzen würde. Sie sah direkt in ein Paar blauer Augen das starr auf ihr lag und schreckgeweitet ihren eigenen Schock spiegelten. Wieso war er noch immer hier? Idiot. Er sagte etwas, bewegte die Lippen. Aber in ihrem Kopf war kein Platz für die Worte. Nur für das stöhnende Knirschen des alten Holzes, das sich immer weiter senkte mit einer Langsamkeit die an Grausamkeit grenzte. Als wäre es eine Strafe für ihre Unachtsamkeit. Hätte sie besser aufgepasst. Hätte sie den Schritt vorsichtiger gesetzt. Hätte sie den Weg nach oben nur nicht genommen. Hätte, hätte, hätte.
Nicht bewegen. Atmen. Nicht loslassen. Der Druck in ihrer Brust wurde zu groß, schmerzhaft protestierend forderten ihre Lungen den nötigen Sauerstoff, ließen sie einen tiefen Atemzug nehmen. Sie schnappte nach der Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sie wollte hier nicht sterben. Nicht so. Nicht gegen einen Gegner gegen den sie nicht einmal etwas tun konnte. Sie hasste dieses Gefühl der Hilflosigkeit, diese Ohnmacht die ihren Körper lähmte und dafür sorgte das sie nun wieder starr in das Maul der Dunkelheit unter sich blickte und das aus gähnend schwarzen Augen zurück zu starren schien.
Nicht bewegen! Nicht atmen! Nicht loslassen! Mit einem knallenden Geräusch das durch die Höhle hallte zerriss ein weiteres der Seile, so dass der furchtbare langsame Moment in dem sich die im Sturz befindliche Treppe neigte plötzlich beschleunigte. Mit einem Ruck senkte sich das alte Gebilde weiter hinunter, der Tiefe entgegen die ihre Arme geöffnet bereit hielt. Aber wie zum Hohn, als sei dies ein zu schnelles Ende für die Menschen die gewagt hatten ihren Schlaf zu stören, endete auch diese Bewegung erneut. Und immer noch war da die Berührung, ein Griff an ihrem Bein wie ein Anker der nicht loslassen wollte und sie mit dem rettenden Land verband. Idiot, Idiot, Idiot. Hau hier endlich ab!
"Beweg dich...atme...lass los!" Sie konnte nicht einmal mehr unterscheiden wer da nun sprach...hatte er gesprochen? Oder war es am Ende doch die Dunkelheit die sie mit lockenden Worten dazu bringen wollte einfach nachzugeben. Loslassen. Es hinter sich bringen. Nicht mehr gefangen sein in diesem Moment zwischen leben und sterben. Wissen und Unwissenheit. Das Holz nahm ihr die Entscheidung ab, die weder Verstand noch Herz treffen konnte. Zwischen ihren Fingern löste sich das Holz einfach auf, zerfiel förmlich und schwebte vor ihren Augen einen Moment lang durch die Leere der Luft als da keinerlei Halt mehr war. Sogar der Griff an ihrem Bein war verschwunden. Sie fiel, immer tiefer und tiefer, direkt dem Abgrund entgegen der die ganze Zeit nur auf diesen Moment geharrt hatte, wie ein Jäger seiner Beute harrt. Er hatte gewonnen.
"Kay!"
Sie streckte ihre Arme aus, ein letzter Flug der Möwe ins Ungewisse. Ob sich fliegen genau so anfühlte? Die Luft zerrte an ihr, ließ das kurze silberfarbene Haar tanzen. Vielleicht hätte sie es genossen, wären unter ihr nicht die zerklüfteten Felsen die immer näher und näher kamen, sich ihr wie Finger entgegenstreckten die ihre Beute endlich greifen wollten. Sie schloss die distelfarbenen Augen, ergab sich dem Unabwendbaren. Ihr Herzschlag raste, als versuchte es mit dem rasanten Flug Schritt zu halten. Komisch, dass sie es genau jetzt doch wieder wahrnahm, wie es da hektisch in ihrer Brust trommelte, als versuchte es dem Sog entgegen zu wirken. Wozu noch. Im nächsten Moment würde es keinen Unterschied mehr machen, alles wurde dunkel.
"Kay!"
Sie riss die Augen auf. Immer noch war sie umgeben von der Dunkelheit. Aber das hier war keine Höhle. Und das Herz raste immer noch wie von Sinnen. Es brauchte einen Moment bis sich Traum und Realität voneinander trennten, zäh und klebrig, als hielte die Tiefe aus dem Nachtmahr sich immer noch an seine entrissene Beute geklammert. In der Dunkelheit über ihr regte sich etwas, ein violetter Schimmer, ein kurzes beruhigendes Aufleuchten. Unwirklich und flüchtig wie es viele Mesmerzauber an sich hatten, zog der Traumfänger mit den schwarzen Moafedern die Reste des Alptraumes an sich heran und bemächtigte sich seiner. Heute würde sie nicht wieder auf den Klippen zerschellen, es endete einfach mit dem Flug. Ob es der Zauber war der sie geweckt hatte, ihren Namen gerufen hatte? Der Mann neben ihr schlief jedenfalls tief und augenscheinlich friedlich fest. Selbst in der Dunkelheit konnte sie auf der dunklen elonischen Haut die roten Tätowierungen ausmachen, die im Schlaf leblos und unbewegt waren, sogar einen Teil des skurrilen Aussehens verloren.
Idiot.
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