„… Du gehörst uns… Spüre die Schmerzen und fühle die Angst, die dich brechen wird“, sprach die rauhe Stimme einer Sylvari, ehe sie ihren Arm erhob, um mit einem knallenden Peitschenhieb Schmerzen über den blanken Rücken der kleinen rothaarigen Blüte zu schicken. Der holzige Rücken wurde aufgerissen und goldener Saft rann in Sturzrinnseln über die bräunlich-grüne Haut auf das saftige, mondhell beschienene Gras. Ein einzelner Schrei verliess die Kehle der Verletzten…
Dunkelrosa leuchtende Augen wurden aufgerissen, der Atem ging keuchend und das Herz flatterte von den Adrenalinschüben der panischen Angst. Ein leises Knarzen ertönte vom Eingang ihrer genommenen Kammer innerhalb der Terrasse der Träumer. Die noch immer in höchste Alarmbereitschaft versetzten Sinne gaben den Anlass bereit, sich aufzuknien sowie eine Kristallklinge zu ziehen und sie der möglichen Notwehr wegen vor die Brust zu halten. „Beruhige dich, ich bin es nur“, sprach eine feine Alt-Stimme. Die Silhouette war unscharf in der Dunkelheit, nur das stetige Aufleuchten in Orange gab die Person zu erkennen, welche langsamen Schrittes die kleine Kammer betrat. „Aine…“ flüsterte zaghaft die Verängstigte. Ihre Augen verfolgten die Schritte der heilkundigen Morgenblüte, die Kristallklinge in einer Krampfhaltung noch immer in der Abwehrposition, bereit loszuspringen. Angekommen an der durch die hastigen Bewegungen schwankende Hängematte, wischte sie mit einer sanften Bewegung die Dolchhand beiseite und umfasste das Kinn mit der anderen Hand. Genauso unwirklich sanft fühlte sich der Kuss auf die Stirn an, wegen dem die grössere leicht auf den Zehenspitzen stand, ehe sie sich wieder auf die ganzen Füsse herabsenkte. Das Herz, anfangs wild pochend, beruhigte sich allmählich. Der Körper entspannt sich, als die verkrampften Muskeln ihre Anspannung verloren. Einen Schritt zur Seite machend, umfasste die Heilkundige mit beiden Armen die Hüften der kleineren und zog diese aus der Hängematte. So in der Umarmung umschlungen, lehnte sie ihren Kopf auf die Schulter der anderen. Sie spürte das leichte Pochen, welches nicht ganz zur Ruhe gekommen war, doch erfühlen konnte sie nichts: Es war als stände sie vor einer grauen Mauer. Eine Zeit lang blieb die Orangeleuchtende so, ehe Aine sich dazu entschloss, einen speziellen Ort aufzusuchen. Ruhig liess sie Thalaniel los und nahm stattdessen ihre Hand, bedacht keine allzu schnellen Bewegungen zu machen, die die jüngere ein weiteres Mal verschrecken konnte.
Über die Stiege nach oben gezogen, über den gewachsenen Schutzzaun hielten sie erst auf einem Dach an. Es war „ihr“ Dach, worauf man den schönsten Anblick des Gartens der Morgendämmerung besitzen konnte und worauf sie beide früher immer heimlich versteckt hielten, wenn einer der beiden gerade keine Lust auf Arbeiten hatte. Es war… berührend zu sehen, wie sich die dunkelrosafarbene Augen ein weiteres Mal weiteten, erstaunt, fasziniert, ohne Furcht. Ein Schmunzeln suchte sich Platz auf den Lippen der Blauäugigen, ehe sie sich niederliess, nach hinten lehnte und kurz die Augen schloss. Auch Thalaniel setzte sich, freute sich das erste Mal wieder im Hain zu sein, auch wenn ihre Gefühle abgeschirmt blieben. Der Blick schweifte zur älteren Aine. Ein leichtes Lächeln breitete sich auf den Zügen der Rothaarigen aus. Aine war die erste Person, die sie nicht mit abschätzigen oder ängstlichen Blicken bewarf. Blicke, die sie auch dieses Mal zugeworfen bekam, ohne sich schützen zu können. Selbst die Erstgeborenen hatten ihre Vorbehalte ihr gegenüber und verhielten sich meist distanziert. Und Mutter? Für sie blieb Thalaniel immer noch ihr Sorgenkind Nummer eins, besonders dann, wenn sie wieder einmal ihre Gefühle versteckt hielt und sich ihre Empathieaura grau verfärbte. Erinnerungen an ihren Anfang bildeten ein Spinnennetz, in dem sie sich für kurze Zeit verfing.
„Du hattest wieder einen deiner Albträume, seit dem du hier bist“ Das Schweigen wurde gebrochen, Augen klärten sich auf und ein Nicken seitens der Angesprochenen erfolgte. „Du hast seit längerem niemanden getötet, hab ich Recht?“, fragte die Alt-Stimme sanft. Die Rothaarige öffnete schon den Mund, als ein kurzer Moment des Zögerns sie stocken liess und sie sich auf die Lippen biss. Die Augen wendeten sich ab, suchten auf dem Dach etwas, in der Hoffnung etwas wie Mut zu finden. „Willst du mich nicht töten?“, schmunzelte die Heilkundige. Der suchende Blick schnellte zum erdgrünen Gesicht, Bestürzung über die Aussage, lesbar im schwach leuchtenden Pink der Augen. „Nein, ich darf nicht“ murmelte Thalaniel, welche den Kopf wieder abwandte und ihren Blick ein weiteres Mal auf die Suche nach etwas Unauffindbarem schickte. Aine streckte die Hand aus, berührte und umschloss die Hand der anderen. Dunkelrosafarbene Spiegel glitten verwundert zu den verschränkten Händen und danach zu den tiefen, sanft lächelnden, blauen Seelenspiegeln ihres Gegenübers. „Galgenast?“, wurde ins Blaue geraten und ins Schwarze getroffen. „Galgenzweig.“ Forsch musterte die Sylvari ihren ehemaligen Schützling und meinte dann: „Es passt zu dir, auch zu deiner Tötungs-herangehensweise. Auch was deine lautlosen Qualitäten angeht“, ignorierte Thalaniels empörte Einwurf, von wegen sie sei keine Lautlose, sondern eine Träumerin. „Das weisst du doch am besten, Aine“, maulte die kleine Morgenblüte, was die grössere der beiden zum Kichern brachte. „Ja, ich weiss das, immerhin hat Mutter mir die Verantwortung vor Jahren für dich gegeben. Ausserdem hab ich dir beigebracht, nicht ganz emotionslos durch die Welt zu laufen“, grinste sie, woraufhin die spannende Frage aufkam: „Wer ist dein Meister?"
„Kennst du Unuda?“, kam sogleich die Gegenfrage, welche durch ein Nicken bejaht wurde, „Sie ist meine Meisterin und…“, stoppte Rosaäugige. Das blassrosa Biolumiszenz erstarkte. „Ja, ich kenne sie. Sie hat mir das Heilen beigebracht, bevor sie ging“, erklärte die Alt-Stimme, fragte schmunzelnd nach dem „Und“? Das Erstarken der Leuchtfarbe in der Dunkelheit zwar nicht ganz unbemerkt, dennoch in der Empathieaura ein deutlicher blassrosa Fleck machte sich aufmerksam. Nicht gross, aber spürbar: Peinliche Verlegenheit. „Sie scheint für dich weit mehr als deine Meisterin zu sein“, feixte die Orangeleuchtende belustigt. Zögerlich und leise, mit entschlossenem Unterton, kam die Antwort: „Ich liebe sie. Mehr als ich dich geliebt habe… In der Zeit im Hain. Aber.. ich vertrau dir und weiss nicht, ob ich ihr mein Vertrauen schenken kann.“ Die Belustigung verschwand und zurück blieb ein sanftmütiges Lächeln, welches der Baummutter Konkurrenz machen könnte, wenn es denn wollte, sowie ein Hauch Traurigkeit. „Ich weiss. Ich kann es spüren.“ Schlicht sprach sie es aus. Kein Neid, warum auch? Genau das wollte sie für die junge Morgenblüte: Eine Person, die liebte und von der sie auch geliebt wurde. Gleich ihrer eigenen Gefühle für die Blüte vor ihr. Sie würde ein Baum bleiben, standhaft bis ins hohe Alter hinein. Allein für sie. Die Rothaarige mit den dunkelrosafarbenen Seelenspiegeln, die in diesem Moment in Gedanken versunken schienen. Allein für die lautlose Träumerin. "Du kannst es immer noch nicht", wurde mehr festgestellt, denn gefragt. "Ja, ich vertrau niemandem, ausser dir und mir. Auch wenn sie meine Geliebte ist.", sprach sie aus den Gedanken auftauchend, den Kopf wieder abgewandt. Von der blassrosa Verlegenheit ist nun nichts mehr spürbar. "Vertrau ihr. Sie verdient es mehr von dir zu erfahren als du zu glauben vermagst... Und erzähl es ihr und schweig dich nicht aus." Kam die Bitte und die Aufforderung in einem von der Orangeleuchtenden, ehe sich Thalaniel in den Armen Aines gemütlich machte, welche nun angefangen hatte über die burgunderroten Kopfblätter zu streicheln.
Langsam verfärbte sich der Himmel rötlich. Einzelne Sonnenstrahlen bahnten sich einen Weg bis zu Ronans Laube und in den Garten der Morgendämmerung, der jetzt in seiner vollsten Pracht dalag. Zwei wachliegende Sylvari sassen sich im Arm haltend auf dem Dach. Jeder vergangene Schatten der Dunkelheit verblieb hinter einer grauen Mauer, unausgesprochen. Sehnsuchtserfülltheit sprach aus beiden Spiegelpaaren. Zwei Morgenblüten – beide von dunkler Gestalt, die grössere mit brauner Kurzblattfrisur, die kleinere mit saftigen roten dicken Kopfblättern – genossen die Wärme der aufgehenden Lichtkugel und den Beginn eines neuen Tages, an dem sich beide wieder trennen würden. Doch eines würde sie verbinden bis in alle Ewigkeit: Vertrauen ineinander.