Tief in der Nacht, als bereits die ersten Vogelstimmen den herannahenden Morgen ankündigten, lag sie immer noch wach. Exotisch und fremd klang die Rufe hier, anders als in Götterfels. Den Schrei einiger Möwen konnte sie jedoch erkennen. Das friedliche, ruhige Atmen neben sich in der Dunkelheit beruhigte sie, holte sie immer wieder in die sichere Gegenwart, während ihre Gedanken zurücksahen, ihr ungewollte Bilder in Erinnerung riefen. Erinnerungen, die Ängste in ihr aktivierten. Schemenhaft drängten sich die Bilder des heuteigen Tages vor ihr inneres Auge, sorgten dafür, dass ihre Gedanken darum kreisten. Sie fragte sich, ob sie es hätte verhindern können, ob sie etwas hätte sagen können, das richtige sagen.
Sie konnte die feinen Tröpfchen des Herbstnebels beinahe auf der Haut fühlen, als ihr Bewusstsein die schlechtbeleuchtete Straße von diesem Abend heraufbeschwor. Die dunkle Gestalt, die im Nebel auf sie zukam, erschien schemenhaft und dann blitzten rasch Bildfolgen hintereinander auf. Klar und deutlich sah sie das maskierte Gesicht, die undurchsichtige Brille, die Waffe an ihrem Bauch, die sie zwang mit ihm zu gehen. Alles was sie mühevoll in den letzten Monaten gelernt hatte, konnte sie nicht abrufen. Angst lähmte sie, sorgte dafür, dass sie die vielen Abwehrmechanismen durcheinander brachte. Sie bot ihren Angreifer sicherlich ein armseliges Bild.
Wo waren plötzlich die Wächter hin, wo war der Asura, der eben noch seine Arbeit am Tor verrichtete. Niemand war da, als die Männer sie durch das Portal verschleppten. Niemand, Georg nicht, Neftyr nicht, Sigrich nicht, niemand. Sie hatte selbst dafür gesorgt, dass niemand bei ihr war. Vor dem Tor stand nur eine weitere dunkle Gestalt, ein Berg von einem Mann. Sie dachte in diesem Moment an die Worte ihres Lehrers.
„Schrei so laut du kannst. Die meisten Angreifer lassen sich alleine durch einen lauten Schrei in die Flucht schlagen.“
Sie schrie um ihr Leben trotz der Waffe, die gegen ihren Bauch gedrückt wurde. Sie hob ihr Knie an und rammte dem Mann, der sie mit der Pistole in Schach hielt, ihren Absatz in die Zehen. Er stöhnte auf, lies aber nicht locker, nicht einen Augenblick, so dass sie hätte fortlaufen können. Das letzte, woran sie sich erinnerte war, dass ihr Hilfeschrei durch einen harten Schlag gegen ihren Hinterkopf jäh unterbrochen wurde.
Die pochenden Schmerzen am Kopf weckten sie. Ihr Kleid klebte ihr nass am Leib. Die Hände auf dem Rücken gefesselt, die Beine zusammengebunden, etwas Muffiges über dem Kopf, das ihr die Sicht nahm, so hockte sie zusammengekauert auf einem harten, glitschigen Untergrund. Sie hörte das monotone Rauschen von Wasser, sie hörte Wasser tropfen, sie hörte Wasser unweit von ihrer Position gegen Felsen schwappte, sie roch den salzigen Geruch von Meerwasser und dann hörte sie Stimmen, die sich unterhielten. Sie konnte sie nicht verstehen, bis sie nah genug bei ihr waren.
„Was machen wir, wenn er nicht kommt?“
„Dann müssen wir uns überlegen, wie wir sie loswerden.“
Einer hatte ihren Kopf fixiert, während ein weiterer ihr mit etwas über die Lippen strich. Etwas Warmes, Dickflüssiges überzog ihre Lippen. Ein eisenhaltiger Geruch kroch ihr in die Nase, sie schmeckte Blut.
„Halt Still, wenn du keinen Ärger machst, kann das hier noch gut für dich ausgehen.“
Etwas wurde gegen ihre Lippen gepresst und forderte unweigerlich ihren blutigen Kuss ein.
Kurze Zeit später hörte sie wieder Wasser glucksen, etwas dumpf auf Holz schlagen… ein Boot. Jemand bestieg ein Boot.
Da war einer, der nicht so grob war. Er band ihre Fesseln vor dem Bauch zusammen, machte es angenehmer für sie. Er wusch ihr das Blut von den Lippen und gab ihr zu Trinken. Er wickelte warme Decken um ihren Leib, wollte sie mit Brot füttern aber sie biss ihn. Sie biss die Hand, die sie füttern wollte. Er ging und ließ sie allein, allein im Dunkeln, nass, müde, ängstlich und mit schmerzendem Hinterkopf. Sie bereute es, malte sich aus, ihre Lage nun noch schlimmer gemacht zu haben. Die Fesseln waren zwar gelockert, aber ihre Finger fühlten sich nach all der Zeit trotzdem taub an. Zeit… wieviel Zeit war vergangen, sie hatte jegliches Gefühl für Ort und Zeit verloren. Sie dämmerte ein und wurde erneut wach, als wieder Wasser gluckste und etwas dumpf gegen den Harten Untergrund stieß, auf dem sie kauerte.
Das Boot, es war zurück. Männer sprangen aus dem Boot, zwei. Sie blieben nicht bei ihr stehen, ihre Schritte entfernten sich. Sie hörte ihre Stimmen, konnte sie jedoch nicht verstehen. Das monotone Rauschen des Wassers störte sie. Dann hörte sie Schritte neben sich. Jemand packte sie unsanft am Arm und zerrte sie ins Boot. Sie spürte das Schaukeln unter sich. Schritte entfernten sich wieder. Sie saß alleine im Boot. Sie höre wie Glas zu Bruch ging, wie jemand aufstöhnte, sie hörte etwas klacken, wieder feste, zielstrebige Schritte, etwas großes, schweres fiel dumpf zu Boden, dann wieder Schritte. Jemand sprang zu ihr ins Boot, das Boot fuhr auf das Wasserrauschen zu. Das Rauschen wurde lauter, noch lauter und dann ergossen sich kalte Wassermassen schwer und unbarmherzig über ihr. Sie verlor den Halt, den Boden unter den Füßen und das Bewusstsein.
Sie schlug die Augen wieder auf und immer noch umfing sie Dunkelheit. Sie tastete ihr Gesicht ab. Da war kein raues Sackleinen, dass ihr die Sicht verhüllte. Neben sich hörte sie beruhigendes Atmen. Sein Atmen, das sie wieder aus ihrem Kopf zurück in die Gegenwart holte. Sie rollt sich neben ihm zusammen, schloss die Augen und lauscht den Vögeln. Er ist ein Mörder, dachte sie bei sich und viel endlich in einen tiefen, festen Schlaf.
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