Kein Wind wehte an diesem Ort, es war seltsam. Alles hier glich seiner Welt bis ins Detail und doch waren beide Orte so unterschiedlich, wie sie nur sein konnten. Das Gras sah aus wie Gras, es fühlte sich an wie welches und dich schien es ihm zu sagen, dass es keines war. Er bückte sich, lies die Halme durch seine Finger gleiten, spürte sie mit seinen Händen. Gras. Was denn auch sonst. Nur eben... Anderes Gras.
Der Mann hob den Blick, wischte sich die ergrauten Strähnen aus dem Gesicht und sah sich um. Er stand in einem lichten Waldstück. Gras wuchs hier und da zwischen den Bäumen, etwas vor ihm schien sich eine kleine Lichtung zu befinden. Alles sah real aus, so, wie er es kannte. Doch dieser Ort schien still zu stehen. Kein Vogelzwitschern, kein Wind, der die Bäume umwehte, kein Raschen ihrer Blätter im Wind. Der Mann wandte sich an den Begleiter zu seiner Rechten.
"Was wolltest du mit hier zeigen, Bruder? Ich verstehe diesem Ort nicht."
Der Wolf, der sich neben dem Norn befand, war ein Stück größer als dieser und wirkte geisterhaft. Wie eine Erscheinung ohne Substanz, konnte man doch durch das Tier hindurch blicken. Er blickte starr geradeaus, gen der Lichtung und blieb dem Mann so eine Antwort schuldig. Und dann setzte er sich in Bewegung. Ohne jedes Geräusch von sich zu geben, lief der Wolf voraus, etwas durch den Wald, ehe er auf besagter Lichtung stehen blieb. Das Haupt des Tieres wandte sich gen des Norn.
Hogni folgte dem Wolf. Er war es gewesen, der den Norn auf dieser Reise geführt hatte... Nein, schon sein ganzes Leben. Trotz der Geschehnisse in seiner Kindheit hatte er zu seinem Geist gefunden. So blieb ihm gar nichts anderes übrig, als dem Wolf zu folgen. Auch er selbst schritt lautlos voran. Hinweg über Zweige, die brachen, aber stumm blieben, vorbei an Gras, das raschelte, aber stumm blieb. Schließlich stand er wieder an der Seite des Wolfs und überblickte die Lichtung. Sie maß etwa zehn auf zehn Schritt, war Rund und löste in Hogni ein seltsames Gefühl aus. In der Mitte der kreisrunden Stelle befand sich ein Brunnen. Das Wasser darin sprudelte empor, lief über die Randsteine und versickerte im Boden. Auch dies geschah in völliger Stille.
Der Norn trat an den Rand des Brunnens und spähte hinein. Das Gebilde schien unendlich weit hinabzureichen, Kristallklasse Wasser befand sich darin und er konnte weit in den Schacht blicken, ehe sich dieser in Schwärze verlor.
"Trink", sprach eine Stimme zu ihm. Nicht in seinem Kopf, nicht in seinen Ohren. Der ganze Ort um ihn herum schien zu Hogni zu sprechen. "Trink. Dies ist mein Geschenk an dich. Gib das auf, was dir wichtig ist und empfange meinen Segen. Du hast viel Unheil gesehen. Ich will dir neue Augen geben. Trink, Hogni. Bruder."
Er zögerte und sah über seine Schulter. Der geisterhafte Wolf sah ihn eindringlich an, nickte mit der Schnauze in seine Richtung. Und dann trank Hogni. Er formte ein Schälchen mit seinen Händen und schöpfte Wasser aus dem Brunnen in seinen Mund.
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Als er wieder zu sich kam, umgab ihn vollkommene Schwärze. Nur das Zwitschern der Vögel, der Wind und all die anderen Geräusche der Natur ließen ihn wissen, dass er zurück war. Er berührte sein Gesicht. Seine Hände konnte er spüren, aber nicht sehen. Und überhaupt konnte er nichts sehen. Alles war dunkel. Sein Augenlicht war erloschen. Der nun trübe Blick wanderte noch einmal umher, dann lächelte Hogni.
Der Geist hatte sein Versprechen also wahr gemacht. Hoffentlich konnten die neuen Augen für ihn genauso nützlich sein, wie es die alten waren.
Das Heulen eines Wolfs in der Ferne gab ihm ein Gefühl der Bestätigung.