„Hast du sie? Halt sie gut fest.“ Schritte im großen Langhaus, als man die schwere Flügeltür mit den massigen Schultern aufstieß und sich dabei schützend über den kleinen Körper bog, den man in Armen hielt. Hilde eilte voran und wies eine Tante an, die Feuerschalen zu entfachen, ehe sie mit einem Ruck das restliche Geschirr von der länglichen Holztafel wischte, an der sie für gewöhnlich alle zu speisen pflegten.
Scharf und eisig folgte der Wind durch die offen stehende Tür und rauschte pfeifend unter das dicke, unter Rauch geschwärzte Dachgebälk, wo er knisternd verharrte. „Dorthin, leg sie auf den Bauch. Bei den Geistern so viel Blut... wo sind die anderen?“ Es folgten weitere Männer und Frauen. Zwei von ihnen trugen ebenfalls kleine, gekrümmte Leiber. Der Geruch von Kupfer und einer schweren Süße erfüllte das Langhaus und reizte den zahmen Wolf, der neben dem Sitz des Familienoberhauptes lag und die Lefzen einmal träge beleckte, ehe sich weise, goldene Augen auf das Geschehen richteten. Ulf trat an den Tisch und bettete seine junge Tochter auf das speckige Holz des Tisches. Sie sah so schrecklich klein und dürr aus. Wie ein junger Rabe, der aus dem Nest gefallen war. Ihre lederne Tunika hatte sich am Rücken geteilt, wo der eisige Schwertstreich sie erwischt hatte. Den anderen beiden erging es nicht besser. Dem kleinen Bran fehlte ein Arm.
„Beim Raben... Ulf...“ Hildes Stimme klang schrecklich nervös. So hatte er seine Frau wohl noch niemals erlebt. An Jahren zählte sie knapp die Hälfte von ihm. Und doch liebte ihn seine schöne, starke und dunkle Gattin von Herzen. Während er schon einige Jahre zählte und graue Fäden seinen einst pechschwarzen Bart zierten, war sie noch so wild und prächtig wie ein junges Reh, oder eine stolze Leopardin. Und dennoch war sie stets die Ruhigere von ihnen gewesen. Besonnen und mit der Weisheit alter Tage beseelt, die noch vor ihr lagen. Nur nicht heute im Angesicht der nackten Gewalt.
Der dritte Norn mit dem dritten Kind, harrte vor dem Tisch und atmete schwer, während Klippheims Winter erbarmungslos in den Schoß dieses Hauses zog. Ein stilles Raunen ging durch das Haus, als er wieder kehrt machte. „Ich bringe ihn in mein Haus. Zu dieser Stunde sollten die Toten nicht bei den Wachenden liegen.“ Somit nahm er den einen kleinen Körper mit sich, während Bran und das Mädchen weiterhin auf dem Tisch ausgebreitet lagen. Tücher waren rasch geholt und wurden auf den blutenden Rücken des Kindes und auf die zahlreichen Wunden des anderen gedrückt. Bran hatte irgendwann angefangen zu schreien, als die gnädige Ohnmacht ihn aus ihren Klauen ließ. Nunmehr konnte man das ganze Ausmaß der schrecklichen Pein in seinen Augen sehen. Sein Arm fehlte und der Stumpf war zerfetzt. Sein Bein aufgerissen. So wie es aussah, hatten sie Hunde auf ihn gehetzt. Verschwitzt war das Kind und schmutzig, als hätte er sich stundenlang durch den Schnee gequält auf seiner Flucht.
„Sie müssen sie... wie auf einer Hatz vor sich her getrieben haben...“, stellte Hildes Stimme erschreckend nahe an seinem Ohr fest, als sie über Ulfs massige Schulter sah und ihn dabei ablöste die Tücher auf den frei gelegten Rücken ihrer Tochter zu pressen. Weißer Knochen schimmerte unter geteilter Haut und Fleisch.
„TINUS!“
Ulfs Schrei war das brachiale Gröhlen eines wütenden Bären. „Ich bin hier Bruder im Geist. Direkt neben dir.“
„Wir brauchen die Heilerin...“, raunte die Stimme des Vaters nach, während Hilde mit harschem Tonfall die jüngeren Norn wegschickte, sie aus ihren Schlafkaten und Fellen gekrochen waren um zu sehen, was passiert war. Asdeis und ihre Brüder beobachteten mit Schrecken wie ganze Rinnsale Blut über den Tisch flossen und auf den grob behauenen, mit Binsen bedeckten Boden flossen. Eilig packten die Brüder ihre kleinere Schwester und zerrten sie mit, begleitet von einer entfernten Tante und weiteren Verwandten, die auch die anderen Kinder mit sich nahmen, so dass das Familienhaus stiller und stiller wurde. „Mama, was ist mit ihnen? Was ist mit Kayli?“ Ihre Rufe verhallten. Sowie die Schreie Brans zu einem wehleidigen Wimmern verklungen und er mehr und mehr nur noch blicklos gen Dachfürst starrte.
„Es wird Tage dauern nach Hoelbrak zu reisen und zurück. Sofern 'das Augenlicht des Nordens' dort sein wird...“ Tinus Brummton klang undeutlich zwischen allerlei Stimmengewirr hindurch. Frauen und Männer huschten durch den Raum. Brachten Wasser und Verbände. Der einzige Heiler Klippheims, ein alter Mann mit gebrechlichen Fingern, ersuchte die Blutung der kleinen Kayleigh durch eine Naht zu stillen. Hiernach patschte er Kräuter auf die Wunden. „Ich kann kaum etwas tun, Ulf... Der Rabe hat bereits seinen Blick auf die beiden gelegt...“
Fester schlossen sich die Pranken des Familienoberhauptes um die massigen Schultern seines Verwandten. „Tu dein Bestes, Tinus. Sofern die Geister es wollen, kommst du noch rechtzeitig. Bring Esther zu uns. Man sagt sie könne Wunder wirken.“
Und so brach Tinus Leifson, trotz Sturm und tiefer Nacht auf, sich dem langen Weg gen Hoelbrak zu überschreiben. In der lauen Hoffnung, dass seine Beine schnell genug sein würden und dass die Legenden über die Heilerin hielten, was sie versprachen.
Kayleigh derweil hatte die unruhige Atmung eines Kindes angenommen, welches große Schmerzen litt. Schwach war sie. Bei den Geistern gerade einmal Dreizehn und der kleine Bran erst zehn.
„Wie ist es geschehen?“, frug ihn Hilde in der späten Nacht, als das Fieber schon vom kleinen Körper Kayleighs Besitz ergriffen hatte und Brans Wangen schon langsam wächsern wurden. „Sie haben unweit der Dolyakherden gespielt.“, begann Ulf in schwerem, niedergedrücktem Tonfall. Seine Augen ruhten dabei auf seinem Kind, welchem er stetig und ständig die Kolkrabenhaarsträhnen aus den Augen strich. „Dort, wo wir es ihnen immer verboten haben. Aber so sind Kinder. Der eine stachelt den anderen an und am Ende sind sie alle unvernünftig...“ Kurz zuckte ein mildes Lächeln über seine rauen Lippen, als er sich an seine eigene Kindheit und Dummheit erinnerte. „Ein paar Söhne des Svanir müssen sie wohl aufgespürt haben... und es hat ihnen Spaß gemacht sie langsam zu töten. Sie zu hetzen als seien sie kleine Füchse bei der Jagd. Ich habe nicht alle sehen können, doch es waren wohl vier Kinder. Britta, Kedulf, Ron und Olaf.“ Schwer legte sich die Pranke an die eigene, faltige Stirn. „Fionn.“ Der Junge, den man sogleich wieder aus dem Haupthaus getragen hatte.
„Bran.“, flüsterte die fast lautlose Stimme ihres Sehers, den man kaum als einen solchen bezeichnen konnte. Ein Scharlatan war er, aber mit gutem Herz, so dass man ihn walten ließ, wenn er in den Vollmondnächten nackt um die Feuer tanzte und die jungen Frauen mit seinem Anblick von Alter und Falten an diversen Stellen verschreckte. „Bran jetzt auch... Möge Vater Rabe ihm den Weg weisen.“ Der Heiler, der bis eben noch versucht hatte sein Bestes bei dem kleinen Jungen zu tun, schüttelte den Kopf. Brans Vater war es, der den Jungen vom blutigen Tisch hob und ihn nach draußen trug, Begleitet vom durchdringenden Wehklagen seiner Frau, welches bis an die Gipfel des nahen Berges zu dringen schien und diesen zum surren brachte.
Hilde und Ulf verstärkten ihre Bemühungen um das fiebernde Mädchen in ihrem Kreise, die noch als Letzte übrig war. Doch letztlich lag es nicht an ihnen, ob sie die Nebel noch eine Weile verschmähen würden. Es lag allein an der Heilerin, Kayleigh und dem Raben selbst ob sie die nächsten Tage überstehen würde.
Kommentare 3