Gedenke- denn nur den Vergessenen gebührt keine Ruhe. Es liegt keine Ehre in der Stille. Kein Ruhm in der Leere. Keine Legende, ohne das Wort. Und dem Wort geht stets ein Gedanke zuvor. Gedenke. Dann wirst du nicht vergessen.
Kayleigh drehte sich in ihrer Fellstatt und lenkte den winterlichen Blick hinauf zum rußgeschwärzten Dachgebälk, während der Wind um die Hütte zog und kleine Schneeflocken gegen die Lederklappen trieb, die jene Öffnungen der Fester verriegelte. Schwer atmete das Holz und ächzte unter der Last des Alters und des Schnees. In unmittelbarer Nähe brodelte und blackerte noch immer das Feuer in den Schalen, die Tinus in dieser Nacht entzündet hatte.
Schwer lag der Duft des Mannes im Raum und erinnerte die Rabentochter wie so oft daran, dass sie dringend eine eigene Bleibe brauchte. Ihr Onkel mochte ein brummiger, gutherziger Geselle sein. Doch hier bei ihm war sie noch nicht gänzlich angekommen. Es galt noch etwas zu tun. Ein weiteres Ziel zu erreichen und weitere Fäden um sich und ihr Leben zu spinnen.
Sie konnte nicht schlafen. Heute hatte sie dem Klan keine Ehre gemacht.
Noch immer lag ihr die nackte Angst im Rücken. Die Tatsache, dass ihr Blut und Geschrei wieder die Sinne vernebelt hatten und ihr alte Bilder ins Gedächtnis rief. Kinderangst im Herzen. Sie erinnerte sich an die Momente, wann immer sie die Augen schloss. Sie fraßen sich in ihr Herz wie kleine, stechende Nadeln. Vater Rabe quälte sie mit den Gedanken. Den Erinnerungen. Er wollte, dass sie nicht vergaß, denn sie sollte darüber nachdenken, was heute passiert war.
Schwerfällig rollte sie sich auf den Bauch und das dicke Bärenfell glitt ein Stück von ihr ab. Darunter war sie in Wolle gehüllt und ihr Leib selbst steckte in einem dünnen Lederleibchen, welches ihre Konturen zur Nacht umschloss. Hellbraun legte es sich auf dunkelbraune, gestochene Haut. Schwarzes Haar ergoss sich über die ausgestopfte Rolle, die ihr als Kissen diente. Finger gruben sich durch das kurze Haar an der rasierten Schädelhälfte. Kratzten knisternd darüber. Sie seufzte und warf sich auf die andere Seite. Wieder bauschte Fell und Wolle auf. Neuerlich durchdrang die Hütte ein Seufzen. Nahe ihr und nahe der Schalen, schlief Bran in seinem Nest und atmete rasch und gleichmäßig, wie es bei kleinen Vögeln nun einmal der Fall war. Kleine Federchen hatten sich schneeweiß durch die rosa farbene und graue Haut geschoben. Wie ein gerupftes Hühnchen sah er aus. Da musste die Dunkle dieser blonden Jägerin recht geben. Die junge Leopardin mit ihrer giftigen Zunge und ihren scharfen Augen. Kayleigh kannte bisher noch keine Norn, die ihr so auf den Magen schlug. Ihre Art und ihr Gehabe. Ihre Worte, viele an der Zahl mit dem Wissen und dem Zweck zu verwunden. Das Rabenkind verstand sie nicht. Und zum ersten Mal spürte sie die Last, etwas auch gar nicht näher kennen lernen zu wollen. Manchmal gab es einfach Wesen, die überforderten einen so sehr, dass man gar nicht anders konnte als ihnen aus dem Weg zu gehen.
Und doch schnitten ihre Silben noch immer scharf ins Fleisch, als sie die Norn von ihrem Bruder weg zischte. Sie anfauchte, als würde jeder weitere Moment, noch mehr Schaden anrichten. Auch die Silben Magnuses waren nicht besser. Kalt schlug ihr die Schuld ihres Versagens ins Gesicht und raubte ihr den Schlaf. Sie war keine Norn. Sie war eine Flachländlerin. Feige war sie dem Feind ausgewichen und hatte in Kauf genommen, dass er verwundet wurde.
Natürlich wusste sie auch, dass sie dieser Bestie nichts entgegen zu setzen hatte. So oder so hätte sie versagt. Aber sie hätte es zumindest versucht. Es war als bekämpfe man den Zahn. Als stelle man sich seinen Ängsten und seiner Furcht und zeige das, was man ist: ein Norn. Geboren zu einer Legende. Welche Legende würde man über sie erzählen?
Kayleigh die Rabentochter, die gut darin war sich zu verkriechen und feige zu sein. Beim Raben! Eklige Gedanken und noch ein ekligeres Gefühl trieben die Norn dazu sich wieder auf den Rücken zu werfen. Knöchelchen in ihrem Haar klimperten dabei leise. Sie spürte den Druck der lang gezogenen Narbe im Rücken. Sie spürte das brennen der Muskeln, die über den Tag zu sehr beansprucht wurden. Sie spürte die Leere des Fells heute Nacht umso intensiver, als sie neben sich griff. Aber nein, sie konnte sich nicht einfach immer in Runas Fellbett stehlen, wenn sie einen Fehler gemacht hatte. Heute musste sie sich ihrem Unglück stellen. Es spüren und akzeptieren. Wegen ihr war ein anderer Norn verletzt worden. Ein Norn, der sich auf sie verlassen hatte. Ganz gleich, ob sie ihn mochte, oder nicht. Und diese Tatsache war real und würde ihr folgen, wie eine kleine Wunde, die immer wieder aufbrach und eiterte. Ob die Thanns dafür sorgen würden, dass man es nicht vergaß?
Wieder musste Kayleigh an diese Frau denken. So verboten schön. So verboten intelligent. So verboten gut in der Jagd. So giftig wie eine seltene Pflanze, die man nicht einzuschätzen vermochte. War das ihr wahres ich? Oder versteckte sie sich listig hinter ihrem Auftreten und den Worten, ganz dem Geist überschrieben, der ihr folgte. Leopardin. Wenn Kayleigh so darüber nachdachte, war dies einer der Tiergeister über die sie fast nichts wusste. In Klippheim gab es nicht viele, die ihr folgten. Die Meisten waren Bauern und Viehzüchter, huldigten der Bärin, dem Raben oder dem Wolf.
Vielleicht, so dachte die Dunkle, war es daran das Gebaren der beiden zu beäugen. Und vielleicht war es daran die Augen zu öffnen und auch dahinter zu schauen, den Wasserspiegel in Schwingung zu versetzen, damit sich das Bild verzerrte und die Wahrheit preis gab.
Die Norn, die am gestrigen Tage versagt hatte, schwor sich nämlich eines: nochmals würde sie nicht versagen! Sie würde eine Norn werden. Kein Flachlandmädchen bleiben. Sie würde ihrer Familie Ehre machen. Und ihrem Klan. Eines Tages wird man sich von der Seherin erzählen, die im Hochgipfelklan ihr Zuhause gefunden hatte. Ganz bestimmt.
Und nachdem dieser Entschluss gefasst wurde, war es, als senke sich ein Flügel des Raben über ihre Sinne. Federn berührten ihre Wangen. Schlaf kroch in ihre Glieder und ließ sie ruhen. Endlich. Dabei gehörte ihr letzter Gedanke dem Norn, der tatsächlich ebenfalls in diese Familie gehörte und der ihr Bran überreicht hatte. Er war auch hier. Dies musste ein Zeichen sein. Hier war ihr Platz. Und hier würde sie bleiben.
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