Jugendschutz-Spoiler
Die Kopfschmerzen hatten wieder eingesetzt, kaum das sie zur Ruhe gekommen war, obwohl sie sich doch eingestehen musste, dass die letzten beiden Stunden recht vergnüglich gewesen waren. Doch doch, sie konnte sich nur dazu beglückwünschen noch einmal vor die Tür gegangen zu sein um zu sehen, was die Strömung des Abends vor ihre Füße spülen würde. Jetzt lag sie hier in diesem Bett, dessen Laken sich noch immer feucht und warm anfühlten. Der ganze Raum war aufgeheizt und schwül, angereichert mit den intensivsten Emotionen, die sie bewusst atmete und in sich aufnahm. Den Kopf des Mannes, der in jeglicher Form Teil dieser Stunden gewesen war hatte sie sich auf den Bauch gebettet um ihm ungestört und in aller Behutsamkeit durch das verschwitzte Haar kraulen zu können. Es war still geworden. Still genug, dass sie ihrem eigenen Herzen lauschen konnte, das sich ruhig und kräftig nicht davon abbringen lassen wollte einen Schlag nach dem Nächsten zu tun.
Das Summen aus ihrer Kehle war beinahe lautlos, halb unbewusst, halb darauf bedacht den Frieden ihrer Gesellschaft nicht zu stören. Irgendein altes Kinderlied, dass ihre Mutter ihr gerne vorgesungen hatte und das es jetzt nicht schaffte, das Rauschen des Blutes in ihren Ohren zu übertönen. Und doch lastete eine ungeheure Stille auf ihren Schultern, die sich nicht abstreifen ließ. Sie war ein schlechter Mensch. Je öfter sie darüber nachdachte, was wirklich nicht sehr oft geschah, desto mehr kam sie zu der Überzeugung, dass es gar nicht anders sein konnte. Jetzt lag sie hier im Beweis ihres eigenen Urteils und versuchte angestrengt sich schuldig zu fühlen. Versuchte so zu fühlen und zu denken, wie manch anderer es in ihrer Situation sicherlich getan hätte, Reue zu empfinden, schockiert über die eigene Verkommenheit zu sein, aber hier war es derart friedvoll, dass stattdessen das perlende Lachen eines Mädchens an ihre Ohren drang. Die Reflexionen von Sonnenlicht in goldroten Locken, die zarte Gestalt eines zerbrechlichen Wesens, das fröhlich und unbeschwert in einem einfachen Leinenkleid durch viel zu hohes Gras sprang, welches sich in Wellen unter dem Wind neigte. Fast konnte sie ihn im eigenen Haar spüren, rufend, lockend, ihren Namen flüsternd, versprechend, sie müsse nur ihre Arme ausbreiten und er würde sie fort tragen. Dorthin, auf dieses Feld, wo das Mädchen mit dem jungen Hund spielte, den sie selbst ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Wenn sie sich nur genug darauf konzentrierte, konnte sie sich genau daran erinnern, wie dieses Mädchen roch, wie die Wärme sich anfühlte, die das junge Ding ausstrahlte, wenn sie sich auf ihrem Schoß zusammenrollte. ...die seltsame Betroffenheit, die Lynn erfüllte wenn ihr kleiner Kolibri ihr wieder einmal dieses uneingeschränkte Vertrauen zuteil werden ließ. Diese Liebe, in der keine Erwartung lag, die nur angenommen werden wollte. So zart, so rein. Ein kleiner geheimer Schatz, den sie sich bewahrte und er gehörte ihr. Sie, diese Kleine, gehörte ihr ganz allein. Ein heftiger Stich von Eifersucht durchzuckte sie bei dem Gedanken jemand könnte versuchen ihr dieses Mädchen wegzunehmen. Unwillkürlich griffen ihre Finger fester in das Haar, dass sie eben noch gedankenverloren gestreichelt hatte.
"Hm? Hast du etwas gesagt?" sie war sich sicher etwas gehört zu haben, aber auf ihre Frage blieb er still und reglos. Der Frieden blieb gewahrt und Lynn atmete tief durch, wieder entspannter in die Kissen zurück sinkend. Aber die klebrige Nässe begann auszukühlen und erregte damit ihren Unmut, den sie zuerst an dem Körper neben sich ausließ. Mit ein-zwei heftigen Tritten beförderte sie ihn vom Bett auf den Boden um sich ungehindert aufsetzen zu können. Den Kopf hielt sie jetzt in beiden Händen auf dem Schoß und stellte mit einiger Überraschung fest, dass ihm der Unterkiefer fehlte. Kurz mühte sie sich noch sich zu erinnern, wann und wo er ihn verloren hatte, dann aber wurde es schon wieder bedeutungslos und sie verlor sich in der Betrachtung dieser lidlosen Augen. Vielleicht war das zu grausam gewesen. Andererseits hatte sie ihn oft genug ermahnt die Augen nicht zu schließen. Hatte sie zuviel verlangt? Würde sie es schaffen dabei zuzusehen, wenn man ihr die Haut vom Fuß schälte? In Anbetracht alldessen, was davor schon geschehen war... Sie seufzte reumütig und strich ihm sanft eine blutklebrige Strähne aus der Stirn "Tut mir leid." Sie flüsterte es nur und ärgerte sich gleich darauf darüber, dass er weiterhin zu ihr aufstarrte, weshalb sie den Schädel zur Strafe mit dem Gesicht nach unten auf dem Kissen ablegte und energisch vom Bett aufstand. "Dann eben nicht!" zischte sie gereizt und schlug die Tür hinter sich zu. Erst auf dem Weg nach oben fiel ihr ein, dass er sie gar nicht hören konnte, seine Ohren mussten irgendwo bei dem Unterkiefer liegen. Oder den Augenlidern. Oder bei... Ach, irgendwo eben! Ungeduldig wedelte sie die Grübeleien mit der Rechten fort und goss sich in der Küche ein Glas Whiskey ein.
Erst eine Stunde später würde sie sich waschen, ihre Sachen aus dem Keller holen und ein Säckchen Münzen auf dem Tisch hinterlegen. Sie würde die Fensterläden in der Küche schließen um den Fleischer wissen zu lassen, dass es etwas zum aufräumen und Lohn zu holen gab. Er würde sich kümmern. Und er würde es sorgfältig tun. Ein guter Mann. ...er würde die Augen sicherlich auflassen, wenn sie ihm nur genug Silber in Aussicht stellte.
Es dämmerte bereits, als sie die Hütte schließlich hinter sich ließ. Sie war ein schlechter Mensch. Ja, gerade war sie sich dessen ganz sicher. Schlecht zumindest, ohne jeden Zweifel. Aber ob sie ein Mensch war? Lynn zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht um ihr schmerzliches Lächeln vor sich und der Welt zu verbergen. Es traf sie, und erklärte doch sovieles, dass sie zu dieser Frage gerade keine klare Antwort fand.
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