Das prasselnde Ofenfeuer machte Alisar nervös. Sie saß hier in dieser einfachen Wohnküche auf einer rustikalen Holzbank und hatte Mühe sich auf das gelockte Rotgold zu konzentrieren, das sie versuchte in einem aufwändigen Flechtzopf zu bändigen. Sie hatte kein Händchen für sowas. Immer wieder glitt ihr eine Strähne aus den Fingern, oder sie flocht zu fest, oder zu locker, und jetzt wo das Knacken und Knistern aus dem Ofen jedes Nervenende vibrieren ließ fiel es ihr nur um so schwerer. ...und der Morgen noch nicht wirklich angebrochen, als sie sich abermals zum Bett der Kleinen stahl: "Lynn? Lynn! Steh auf. Es hat aufgehört zu schneien." wisperte sie nur und schaffte es damit kaum die Nebel tiefen Schlafes zu überwinden: "Na komm..." sie zog dem Mädchen im Nachthemd die Decke weg: "...wir schauen uns die Sterne an." - "Sterne?" Lynn räkelte sich im Bett und blinzelte gegen das Kerzenlicht an: "Jetzt?" - "Jetzt. Komm, ich helf dir anziehen."
Und doch war es ein vermeintlich friedlicher Moment, wie es ein friedlicher Tag gewesen war. Der ganze Hof lag unter einer tiefen Schneeschicht begraben, so dass seine Bewohner sich hier im Haupthaus versammelt hatten und durch die halbvereisten Fenster zusahen, wie der Wind träge Schneeflocken vor sich her wälzte. Andächtig konnte man hier lauschen wie er sich in Winkeln fing und zwischen den Ritzen von Holzplanken hindurchdrang. Selbst hier drinnen wurden keine Stimmen laut, ganz so als dämpfe der Schnee selbst im Haus die Geräusche. Irgendwo in dem Inneren des Gemäuers konnte man Menschen murmlige Gespräche führen hören und würde der abscheuliche Geruch von kokelndem Holz nicht alles überlagern, Alisar könnte sich beinahe wohl fühlen. Die Wärme, die schlichte Herzlichkeit einfacher Leute berührte sie, auch wenn die Schwarzhaarige anderen insgeheim ihre Fähigkeit neidete aus simplen Mauern und Wänden ein Heim zu machen und sie in einen Hort von Sicherheit und Behaglichkeit zu verwandeln. Sie selbst war dazu nicht fähig. Es war wie mit dem flechten von Zöpfen: Je mehr sie sich darum bemühte, desto schneller schien ihr alles aus den Händen zu gleiten. Also bezahlte sie andere dafür und labte sich wie ein Parasit an ihrer Lebensfreude. Mitlerweile traf es sie nichtmehr. Sie hatte eine Philosophie gefunden, sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Und nicht zuletzt das war es, was sie heute mit einem Frieden erfüllte, dem nichtmal das offene Feuer wirklich etwas anhaben konnte.
Lynn vor ihr erzählte in einem nicht enden wollenden Redeschwall von allem was auf dem Hof seit Alisar's letztem Besuch geschehen war. Da war die schwangere Magda, ein neuer Kräutergarten und eine Räucherkammer, die sie gebaut hatten. Sie berichtete namentlich von dem geschlachteten Vieh, davon, dass die Ernte nicht so reich gewesen war wie erhofft und dass es einen Überfall von Banditen gegeben habe, der aber abgewandt werden konnte. Alisar lauschte nur mit halbem Ohr und löste stattdessen den Zopf einmal mehr und begann von Neuem.
"Darf ich es Alisar nennen? Darf ich? Umi hat schon ja gesagt." Es war die Begeisterung in der Stimme des Mädchens, die Alisar überhaupt erst aufhorchen ließ: "Was? Wen?" - "Hab ich doch grad gesagt! Das Fohlen. Du hörst mir ja gar nicht zu." - "Doch natürlich. Hat Umi denn keine bessere Idee?" Umi hieß eigentlich Karum, es war sein Hof auf dem der kleine Kolibri ein zu Hause gefunden hatte: "Nein. Umi findet Alisar toll. Und ich auch." Die Ältere zupfte etwas fester an der rotblonden Mähne um Lynn für den schmollenden Unterton zu strafen: "Wenn du es schon beschlossen hast, warum fragst du mich dann?" - "Na weil... Weil..." die Kleine schnappte hörbar nach Luft und wählte schließlich den taktischen Themenwechsel: "Warum schenkst du mir einen Sternenbeobachter, wenn wir jetzt gar keine Sterne angucken, Lis?" klagte sie also stattdessen an und erntete doch nur ein tiefes Lachen: "Hast du mal rausgesehen?" - "Dann schauen wir eben Schneeflocken an! Ich will ihn ausprobieren!" - "Du könntest..." unterdessen löste Alisar den Zopf auf ein Neues und lockerte kurz die Schultern unter der aufkeimenden Ungeduld: "...ja erstmal die Bücher anschauen, die ich dir mitgebracht habe." Das Mädchen ächzte: "Bücher sind doof!" - "Sind sie nicht." - "Doch!" - "Nein." - "Doch!" - "Lynn..." - "Sind sie wohl!" Diesmal ächzte die Ältere und beschloss es zunächst auf sich bewenden zu lassen. Nicht zuletzt, weil sie nicht wollte, dass die Kleine das Lächeln in ihrer Stimme hörte. "Wie geht es deinem Mann?" fragte Lynn weiter und bemerkte in ihrem Eifer kaum, wie die Ältere hinter ihr kurz erstarrte: "Ich weiß nicht... Gut, denke ich. Wir haben uns lange nichtmehr gesehen." - "Warum nicht?" Lynn rutschte vor ihr auf der Holzbank etwas hin und her, so dass Alisar die Locken erneut aus der Form gerieten, etwas, das jene nur halb mitbekam, denn gerade war ihr Blick durch den Kopf des Mädchens hindurch auf etwas gerichtet, das in weiter Ferne lag: "Das ist nicht so einfach, Lynn. Manchmal ist es leichter jemanden gern zu haben, wenn man ihn nicht nah bei sich hat." Das Schweigen, das folgte, war kein unangenehmes, denn Beide hingen sie einträchtig ihren Gedanken nach bis Lynn schließlich angedeutet mit den Schultern zuckte. "Das verstehe ich nicht." schloss sie und erntete dafür einen Kuss auf den Schopf. "Musst du auch gar nicht. Mach dir keine Gedanken darum. Es ist gut so, wie es ist." Aber das Mädchen zögerte sich damit abspeisen zu lassen. Sie sprach es nicht aus und doch schwebte zuviel Ungesagtes im Raum. All die Dinge, die die Kleine ahnte und nach denen sie irgendwann fragen würde. Irgendwann. Nur heute noch nicht. Heute spürten sie Beide, dass das Gespräch im Begriff war in eine Tiefe abzugleiten, in der die ausgesprochenen Wahrheiten nur neues Salz in niemals verheilende Wunden streuen würden. Also kamen sie zurück zu dem Fohlen, und dazu dass Alisar sich unbedingt einmal ansehen müsse, wie gut Lynn jetzt schon reiten konnte. All diese leichten, unverfänglichen Themen, die nicht schwer zu verdauen waren und niemandem weh taten. Es war spät geworden, als Lis die Kleine schließlich ins Bett brachte...
Nur dreißig Minuten später hatten sie den Hof hinter sich gelassen. Sie saßen dick eingepackt auf dem Rücken eines großen Rappen, der die Hufe schwungvoll warf um gegen den kniehohen Schnee anzukommen. Verfolgt wurden sie von zwei halberwachsenen Hunden, die in der Schneise liefen, welche der Hengst für sie schlug. Weit entfernt am Horizont graute bereits der Morgen, als Lis ihn auf einer Hügelkuppe mehrfach im Kreis gehen ließ um ihnen etwas Platz zu schaffen. Ein halbvoller Mond beleuchtete die Szenerie während sie das Teleskop aufbauten und sich für eine halbe Stunde selbst zu wahren Sternenforschern aufschwangen und wilde Theorieren über das 'Da draußen' spannen, bis Alisar die Kleine schließlich an sich zog und ihren Blick mit einem Deut auf den Mond richtete: "Weißt du, Liebes, warum die Menschen zögern, nach dem Mond zu greifen?" fragte sie leise und ließ das Mädchen etwas grübeln, ehe sie ihr mit der Antwort doch vorgriff: "Weil sie Angst haben zu scheitern." flüsterte sie ihr ins Ohr. Dann, ganz langsam, als hielte sie etwas endlos zerbrechliches in den Fingern, griff sie nach Lynns Hand und streckte sie mitsamt der eigenen nach dem Mond aus: "Aber das ist ziemlich dumm. Wenn du genau hinschaust, dann erkennst du nämlich, dass du, selbst wenn du daneben greifst, immernoch verdammt gute Chancen darauf hast zumindest einen Stern zu erwischen." Mit nur einer kleinen Geste schob sie dem Mädchen einen kleinen Stein in die Handfläche und beobachtete gerührt das unverhohlene Staunen des kleinen Kolibri's, als sie die Hand vor den Augen öffnete. Der Stein war kaum mehr als ein Kiesel, doch gerade ging ein helles weißes Leuchten von ihm aus. Die Kälte begann durch die dicken Kleider zu ziehen, aber der Moment war von seiner ganz eigenen Magie erfüllt: "Ich hab schon einen Stern." sprach das Mädchen schließlich leise und richtete die veilchenblauen Augen auf die Ältere um ihr zu versichern, dass sie nicht von dem Stein sprach: "Und du? Hast du auch einen?" - "Ja." Alisar musste nicht zögern um diese Antwort zu finden: "Ja." wiederholte sie dennoch überzeugter und sprach dann weiter: "Lass uns nach Hause gehen. Es wird bald Frühstück geben."
Sie hatte Lynn in eine dicke Decke eingewickelt und hielt sie auf dem Pferderücken eng bei sich, so dass sie sicher und schläfrig vor sich hindösen konnte. Während das Funkeln über ihr allmählich verblasste gedachte Alisar all der Sterne in ihrem Leben und sie empfand eine tiefe, ehrliche, wenn auch schmerzliche Dankbarkeit für jeden einzelnen von ihnen. Schmerzlich, weil sie viel genau wusste, dass am hellsten, am strahlensten immer jene Sterne waren, die man nicht haben konnte.
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