Sie saß auf dem Dach des schäbigen Hauses auf der Deverol-Insel, die kurzweilig das Zuhause für sie und die anderen Mannen darstellte, die für den Gecko arbeiteten und seiner Braut folgten. Sie nannten sie Käpt'n. Und Sage nannte sie Sir Käpt'n. Aber sie hatte kein Schiff. Nicht SO ein Schiff.
Die Nadel trieb weit, weit entfernt in einer Bucht, nahe des Hafens und sie konnte förmlich sehen, wie die Segel gerafft und vertäut wurden. Wie es auf dem Schiff lebte und pulsierte. Richtige Freibeuterarbeit. Nicht das, was sie hier tun musste. Kochen und keiner aß es. Die Smutje seufzte. Vor allem erzählte man sich so viele aufregende Dinge über den Kapitän dort. Über den Goldzahn und seine berüchtigte Crew. Über den Mann der mit einem Haifisch gerungen haben soll. Und ihn gar besiegte! Nur sein Gesicht wurde dabei zerfleischt. Furchterregend sollte er aussehen. Bei seinem Anblick sollen alte Frauen wieder zur Jungfrau geworden sein.
Sie hätte ihn zu gerne kennen gelernt. Hätte zu gern unter seiner Flagge gearbeitet. Ihr berüchtigtes Ratten-Stew. Oder Moa-Eier im Schlafrock.
Sie seufzte wieder.
„Hey, was machste denn hier oben?“ Drake stieg neben ihr auf das windschiefe Dach. Eine Buddel in der Pranke, fläzte er sich neben dem 'Burschen' auf den strohgedeckten Giebeln. Dabei breitete er seinen nach Schweiß und Kerl duftenden Männerkörper neben ihr aus und trank einen Schluck aus der Flasche, während ein lang gezogenes Stöhnen seine Muße preis gab.
Sage machte ihm die Geste unbewusst nach. Fläzte sich. „Siehste das Schiff da? Da werd ich irgendwann sein. Sie deutete hinaus auf die See, wo die Nadel zart auf den Wellen tanzte und wippte. „Da?“ Drake stieß ein amüsiertes Lachen aus. „Kleiner... da schaff nicht mal ich es rauf. Träum weiter. Die werden deinen knochigen Arsch nicht mal in die Nähe des Decks lassen. Geschweigedenn dich in die Kombüse. Der hat gewiss einen besseren Smutje, als dich halbe Portion.“
Raues Lachen aus der Männerkehle und wüstes Geklopfe auf Sages schmale Schultern. Manchmal fragte sich das Weib, ob selbst Drake hin und wieder vergaß, dass sie kein Junge war. Natürlich spielte sie die Maskerade seit Jahren perfekt. Sie gab sich als kleinen Jungen aus und hatte Erfolg bisher. Niemand spähte hinter die Fassade. Niemand ahnte es.
Drake wusste es, weil sie zusammen groß geworden waren. Beziehungsweise er sie hatte aufwachsen sehen. Er, der beste Freund ihres Bruders, war dabei als dieser sie in Jungensachen steckte, um sie auf den Meeren und den wüsten Piratenhäfen zu 'beschützen'. Als Mädchen käme sie da nicht weit, hatte der Bruder ihr prophezeit. Entweder man bräche ihr das Herz oder würde ihr die Unschuld rauben. Drake und er konnten ja nicht immer auf sie acht geben. Und damit hatte er sie in die Welt entlassen. Zusammen mit Drake, der seitdem ungebrochen an ihrer Seite weilte- nein umgekehrt. Sie an seiner.
Sie lief ihm nach wie ein treudoofer Welpe. Und er... er tat was Piraten eben so taten. Trank, raufte, schnauzte und vögelte.
Eine hübsche Frau folgte der nächsten. In jedem Hafen hatte er mindestens eine.
Sage zog die spindeldürren Knie an den flachbrüstigen Torso. Sie war erwachsen, eine Frau. Und doch spielte sie einen Halbwüchsigen Jungen, der noch nicht einmal ein Haar auf dem Sack hatte. Und keinen Stimmbruch.
Es war nicht immer leicht, diese Fassade zu erhalten. Wenn man sich doch so viel mehr wünschte als das. Wenn man sich wünschte er würde nicht grob auf ihre Schultern hämmern, als wolle er ihr die Lunge aus dem Leib prügeln.
Wenn man sich wünschte, dass man da draußen auf dem berühmt berüchtigten Schiff eines angesehenen oder eher gefürchteten Piraten wäre und nicht hier, auf einem Stroh gedeckten Dach sitzen würde.
„Eines Tages...“, murmelte das Weibsbild im Jungenkleid energisch. Die behandschuhten Pfoten spannten sich zu kleinen Fäusten. „Eines Tages schaff ich es...“
Drake sah sie nur an und schwieg. Er musterte sie auf diese Art und Weise, wie er sie nur immer heimlich ansah. Wenn er wieder zu wissen schien, dass sie eine Frau war. Wenn er sich an ihre gemeinsame Vergangenheit erinnerte und an ihre Kindheit. Wenn er sich an das lockenköpfige Mädchen erinnerte, welches um ihn und seinen besten Kumpel stets herum getanzt war und davon gesungen hatte, dass sie eine Prinzessin werden wolle.
Eine Prinzessin war Sage nie geworden. Nunmehr war sie ein Pirat. Und ein Junge. Es schien zum totlachen. „Vielleicht wirste das mal.“ Er lehnte sich zurück und zog einen Hut tiefer in die Stirn, bedeckte die Augen damit und sonnte sich auf dem Dachrist mit lang gestreckten Beinen. „Sag mir dann bescheid.“, spottete er fröhlich. Ein schiefes Grinsen im Mundwinkel. Die Buddle in der Pranke.
Er sah nicht Sages sehnsüchtigen Blick der vom Schiffsrumpf abglitt und zu ihm wanderte. „Mach ich.“, raunte sie mit murmelnder Stimme und bettete das Kinn auf die Knie, während sie ihn lange ansah. „Werd ich.“
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