Lynn stand vor dem Spiegel, wie sie es jeden Morgen tat bevor der Unterricht anstand. Penibel prüfte sie ob die Bluse richtig saß, ob der Rock nicht doch zu kurz war, ob die Rüschen an den Ärmeln unordentlich waren und ob diese lächerlichen Schuhe, und ja, sie fand sie wirklich lächerlich, auch fein säuberlich geputzt waren. Sie richtete ihren Kragen bestimmt zum vierten Mal in den letzten 20 Minuten und schob den Anhänger ihrer Kette zurecht, bis er genau mittig zwischen ihren Schlüsselbeinen lag. Einen prüfenden Blick später zog sie sich das Haarband aus den Locken und band den Zopf sicherheitshalber nochmal neu.
Diese Sorgfalt hatte sie nicht immer an den Tag gelegt. Zu Beginn war sie lieber leger erschienen. In Hosen, gern auch mal in Leder, engen Corsagen, einfachen Leinenhemden, immer ihrer täglichen Laune entsprechend und hatte die mahnenden Blicke des Richters Adalbert Von Freystadt mit gerecktem Kinn und unsäglichem Stolz herausfordernd ignoriert, fest entschlossen den Alten zu erziehen. Schließlich arbeitete er für sie, nun, eigentlich für Adrian Iorga, nicht anders herum. Er war es, der sich anzupassen hatte. Und Richter Von Freystadt passte sich an - indem er sie nicht weniger als eine Woche 4 Stunden am Tag mit Themen quälte wie 'Angemessener Kleidung junger Damen', 'Angemessener Kleidung bei Gericht', 'Die Wirkung von Kleidung auf den Betrachter' und all dies solange und enervierend detailreich vor ihr zerlegte, dass sie sich schließlich ergab und einkaufen ging. Starrsinnig wie ein bockiges Fohlen hatte sie sich ihm am nächsten Tag präsentiert, angemessen gekleidet, und ihn mit einem scharfen Blick abgestraft, als sie ihn bei einem flüchtigen Lächeln ertappte, mit dem er ihrer aufgesetzt-braven Erscheinung gedachte.
Nach und nach hatte er ihr abgewöhnt zu kippeln, auf ihrem Stuhl zu lümmeln, in den Pausen zu rauchen, auf ihrem Stift herum zu kauen und die entdeckte Kritzelei einer Guillotine auf einer Mitschrift hatte er mit einem Tag ohne Pausen und einer eingeschobenen, ausgesprochen ausführlichen, allerdings rein theoretischen, Lehreinheit über die Vorzüge körperlicher Züchtigung bei Wiederholungstätern diszipliniert. Er bog sie zurecht und Lynn, die wusste, dass das geschah, die sich selbst bei ihrem widerwilligen Wandel zusah, kämpfte von Mal zu Mal damit ihren jugendlichen Stolz zu schlucken und dem Ehrgeiz nachzueifern, der sie durchaus gepackt hatte. Hin und wieder, in seltenen, großmütigen Augenblicken schaffte sie es die eigene Unreife zu belächeln und nahm sich vor nicht so hart mit ihm ins Gericht zu gehen, aber der Richter zerschlug jeden guten Vorsatz schnell mit der nächsten Kleinigkeit, die er auszusetzen hatte.
Nachlässig drückte sie jetzt die Zigarette im Aschenbecher aus und wedelte den Qualm weg, als könne sie diese kleine Sünde damit ungeschehen machen, ehe sie nach dem Flakon griff um sie mit einem Duft zu tarnen, der in des Richters Nase weniger Mismut erregen würde. Einen Mantel striff sie sich über, griff sich ihr Bündel mit Büchern und verließ das Zimmer Richtung Stall, wo Jeff, der schüchterne Pferdeknecht, schon mit der Kutsche wartete. Dieser gab sie gegenüber dem Selbst Reiten den Vorzug, seit der Richter bekundet hatte, den Geruch von Pferd nicht zu schätzen. Lynn hielt ihn für einen furchtbaren Mann. Er war, davon war sie zutiefst überzeugt, herrisch, unnachgiebig, ungerecht und wusste ihre Bemühungen dieses Studium der Rechtslehren vorran zu treiben nicht im Mindesten zu schätzen. Aber, und auch davon war sie überzeugt, von ihm würde sie sich nicht klein kriegen lassen. Von ihm nicht!
Mit dieser fragwürdig erwachsenen Überzeugung betrat sie das Arbeitszimmer, in dem er seinen Unterricht abhielt. Es war ernüchternd dunkel gehalten, nicht über die Maßen groß und fasste in zwei wandbreiten und deckenhohen Regalen eine erschlagende Menge an Büchern, die sich auf die eine oder andere Art und Weise allesamt mit der Rechtslehre befassten und von denen sie argwöhnte, sie alle auswendig kennen zu müssen um den Ansprüchen ihres Privatlehrers wenigstens halbwegs zu genügen. Von Freystatt saß bereits dort und sah nichtmal auf, als sie ihren Platz einnahm und die Bücher vor sich ausbreitete. Er sah auch nicht auf, als sie sittsam ihren Rock glatt strich, die Bücher neu sortierte und sich nach Minuten des Wartens leise räusperte um auf sich aufmerksam zu machen. Er ließ sie warten und das obwohl sich das Temperament des Mädchens mit loderndem Blick längst in die vom Alter ausgezehrte Gestalt des Mannes hineinzufressen versuchte. Unbeeindruckt und mit einer Ruhe, die Lynn nur als Provokation auffassen konnte, fuhr er fort irgendein Schriftstück fertigzustellen und es dauerte zwanzig, wenn nicht gar dreißig Minuten, bis er einen Stempel und sein Zeichen darunter setzte und es zur Seite schob.
"Fräulein Marquess." grüßte er mit tiefer Stimme in einem Tonfall der ganz persönliche Enttäuschung auszudrücken wusste und erhob sich. Mit nachlässiger Geste suchte er in einem Stapel zwei beschriebene Blätter zusammen und nahm sie mit sich um den Tisch um sie ihr unter die Nase zu halten: "Was ist das?" Etwas in seiner Betonung behagte ihr nicht und weil er selbst nicht polternd aufbrauste bot er ihrem Temperament nicht die Fläche sich an ihm zu entladen. Als sie die Hand hob um ihm die Blätter abzunehmen zog er sie ihr wieder fort und drehte das erste um, die Augen über Zeilen mit ihrer Schrift fliegen lassend: "Es ist legitim einen Menschen bei Verdacht der Planung einer Straftat in Gewahrsam zu nehmen." las er vor: "Was soll das heißen?" Er sah auf und warf ihr über die Papiere hinweg einen verständnislosen Blick zu, nur um Lynn abermals vorzugreifen als sie geräuschvoll die Luft einzog um zu antworten: "Wie fundiert muss der Verdacht sein? Und was für ein Gewahrsam ist angemessen? Gibt es Unterschiede für die verschiedenen Stände? Und das hier..." wieder suchte er, diesmal einen anderen Abschnitt: "'Der angemessene Zeitraum eines Gewahrsams beläuft sich bei minderschweren Fällen in der Regel auf drei bis sechs Tage.' Was ist denn ein minderschwerer Fall, Fräulein Marquess?" achtlos ließ er die Blätter vor ihr auf den Tisch fallen: "Ist es zuviel von Euch erwartet, den Paragraphen zu benennen, der das regelt?" Sein misbilligender Blick lastete schwer auf ihr. "Ich erkenne diese Arbeit nicht an. Was Ihr mir da abgeliefert habt ist bestenfalls durchschnittlich." Und wo er erst noch fehlendes Verständnis vorgeschoben hatte, fiel der Klang seiner Stimme jetzt ins Abfällige und Lynn, die alles ertrug, nur eben nicht durchschnittlich zu sein, schnappte nach Luft. Es war seine offenkundige Enttäuschung, die ihrem Temperament jeden Boden nahm, die sie sich wie ein dummes Schulmädchen fühlen ließ und all ihre Energie für den Moment mit aufkommender Ohnmacht blockierte. "Ich..." begann sie halblaut und sah über die geschriebenen Zeilen, als müsse sie dort nur lange genug suchen um die von ihm benannten Mängel zu beheben: "Ich ich ich!" er wischte jede ihrer Erklärungen mit einer authoritären Geste beiseite: "Wenn das alles ist, was ich von Euch erwarten darf frage ich mich, wie ihr einen Ratsherren dazu bewegen konntet Euch ein Empfehlungsschreiben in die Hand zu geben." Entgegen ihres Naturells, das vehement und in der Tat schlagkräftig war, sank sie etwas in ihrem Stuhl zusammen. "Er scheint große Stücke auf Euch zu halten, wenn er es ist, der mich bezahlt. Also verschwendet Ihr am Ende vielleicht nicht nur meine Zeit, sondern auch seine Münzen." Es war nicht zuletzt dem großen Gefälle zwischen Meister und Schülerin anzulasten, dass es ihr nichtmal in den Sinn kam ein charmantes Lächeln aufzusetzen um ihn mit eingängigen Worten von seinem Gedankengang abzulenken. Sie war gefangen in ihrer Rolle und ahnte in dieser kaum, dass es das Weichen ihrer Gesichtsfarbe war, was ihn veranlasste den Stachel nicht tiefer zu bohren und ihn, der fordernd aber nicht grausam war, seine letzten Worte beinahe bedauern ließ: "Ihr schreibt mir einen Aufsatz. Über das gesamte Thema. Acht Seiten bis übermorgen. Vorher will ich Euch hier nichtmehr sehen." Damit tat er einen Schritt zur Seite und wies Lynn mit einem Nicken die Tür. Scheinbar unbeeindruckt und im Stillen etwas begreifend sah er zu, wie das Mädchen, dass sonst so stolz und selbstsicher war, Sekunden ins Nichts stierte, ehe sie sich mit einem tiefen Luftzug aus ihrer Starre löste und mit kontrollierten Bewegungen ihre Bücher wieder aufnahm. Im Gegensatz zu ihr sah er nicht über die zitternden Fingerspitzen hinweg und rührte sich nicht, als sie sich lautlos erhob und still den Weg zur Tür aufnahm: "Acht Seiten." wiederholte er in ihrem Rücken: "Ach, und Eleonore?" setzte er nach und ließ sie damit mit der Hand auf der Türklinke einen Moment verharren. Im Inneren konnte er nicht umhin aufzulächeln, als er in ihrer Art sich ihm nur halb zuzuwenden und seinem Blick nicht zu begegnen etwas von ihrer trotzigen Unbeugsamkeit wiedererkannte: "Wenn Ihr mir noch einmal so einen Wisch vorlegt, ist der Unterricht beendet." Dann schloss sich hinter dem Mädchen die Tür.
Der Weg nach Hause zog unbedeutend an ihr vorbei. Wie eine Schlafwandlerin bestieg sie die Kutsche, gab Jeff ein paar Anweisungen und war noch nicht wieder richtig aufgewacht als sie wieder ausstieg, während Stolz und Fassungslosigkeit einen unbarmherzigen Krieg mit der Betroffenheit führten, die sie darüber empfand enttäuscht zu haben. Wie ein Schatten schlich sie durch das Anwesen auf ihr Zimmer und ließ sich von innen gegen die Tür fallen als könne sie das Übel damit aussperren, nur um gleich darauf mit einem frustrierten Aufschrei die Tasche mit den Büchern gegen die nächstbeste Wand zu pfeffern. Unter ihrem hasserfüllten Blick prallten sie dort ab und landeten dumpf auf dem Boden, ohne dass es die gewünschte Genugtuung brachte und damit Grund dafür gaben, ihre Stimmung abermals umschlagen zu lassen. Ihr kurzer Ausflug endete nur eine Minute später im Bett, als sie kraftlos auf die Matratze sank, sich das Kissen über den Kopf zog und sich, ganz erwachsen natürlich, dafür bemitleidete die Ungerechtigkeit der ganzen Welt auf den Schultern zu tragen.
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