„Du sollst nach vorne sehen. Glaub mir diese Schlacht ist verloren.“
Helena rief sich Marzios eigenartig verbundenen Gesichtsausdruck in Erinnerung, seine Stimme, als sie den Kopf vornüber sinken ließ und ihre Nase in den Schnee tauchte. Sie sah aus als wäre sie durch Puderzucker gefahren, als sie die Stirn wieder hob und schniefte wie eine Ertrinkende, deren Mund irgendein grausamer Witzbold zugenäht hatte.
Scheinbar war nicht nur diese eine Schlacht verloren.
Wie stolz war sie vor einigen Tagen gewesen, wie freudig erregt und zutraulich der Hoffnung gegenüber, dass es jetzt wieder besser würde, als sie sich überwunden hatte, das Pulver nicht anzunehmen. Sie hatte geglaubt über den Berg zu sein.
„Ich bin stärker als das“, hatte sie gesagt, mit aller Überzeugung, die sie in ihrem aufgerichteten, hellen Wesen finden hatte können.
Sie brauchte mehr. Das war doch alles nichts.
In Ossa vor der Wunderlampe war kein Mensch. Sie zog daran vorbei, kehrte dann ruckartig um und versicherte sich abermals auf dem Platze. Niemand hier, keines der Gesichter, das sie fragen hätte können. Mit gesenkten Lidern, unter denen ihre Augen ungesehen über den Stein irrten, hielt sie direkt auf das Westliche Marktviertel zu, und als sie es durchquert hatte, bog sie durch den langen Tunnel ins Östliche ein.
Geräusche türmten sich auf beiden Seiten auf und schluckten sie wie eine Welle, als sie in die Sackgasse trat. Sie wich allen Beobachtungen aus. Jemand fasste ihr an die Rückseite.
„Bist du wahnsinnig?“, hörte sie, vielleicht von ganz anderswo her, sie ignorierte es alles komplett, die Gespräche, die Enge, das schlechte Licht, den Geruch von abgestandenem Bier, ranzigem Fett und förmlich in der Luft stehendem Dreck, schloss die Augen halb und bewegte sich wie ein Lichtstrahl, der durch ein viel zu dichtes, undurchdringliches Dunkel musste, auf einen Mann zu, der den letzten Platz an der Ausschankzeile besetzte.
„Glaub mir diese Schlacht ist verloren.“
„Ich bins.“
„Glaubst du, das sehe ich nicht? Was machst du hier? Ich war nicht in Ossa. Wenn du und deine Cousins hier sind, um mir Ärger zu-“
„Ich bin allein.“
Der Mann musste wohl erkennen, dass ihre schläfrige, gleichsam hungrige Art zu reden etwas anderes bedeuten musste, als er zuerst erwartet hatte. Er legte eine Hand auf seinen fetten Bauch, der ihm so weit über die Hose quoll, dass seine Genitalien darunter verborgen lagen, sicherlich auch dann, wenn er nackt war.
„Willst du ein Bier, Mädchen.“
„Nein. Verkauf mir was.“
„Was?“ Als er lachte, quoll eine Woge schlechten Geruchs aus seinem Mund. „Das isn Witz, oder?“
„Lacht hier irgendjemand.“
Viele Leute lachten. Hinter ihnen, ein langhaariger Kerl mit einem halben Maul voller Zähne, oder das Mädchen mit dem gelben Band auf dem Schoß eines einigermaßen ansehnlichen Burschen, der allerdings aussah, als habe er sich einen gestohlenen Kartoffelsack übergezogen, eine Frau mit riesigen, tief hängenden Brüsten, sie alle lachten, aber keiner von ihnen über das, was Helena gesagt hatte. Sie bohrte ihren Blick starrend in den Mann, woraufhin er irgendwann begann, seine gelben Finger aneinanderzureiben, zu knurren und zu nicken.
„Wenn das n Trick ist...“
Die Straßen hatten Buckel. Sie buckelten wie die Katzen, die mit irgendeiner Unzulänglichkeit konfrontiert waren, und Helena führte ihren komischen Tanz auf ihrem Rücken aus, drehte sich an Laternen und murmelte Beleidigungen über Leute, die ihr in ihrer Kindheit einmal ein Unrecht getan hatten.
„Hallo?“ Wie war sie in die Gasse gekommen? Und wer war ihr dahin gefolgt? Dicht in ihrer Nähe hatte sich jemand bewegt oder geatmet. Was nochmal? Sie merkte, dass ihre Hände zitterten. Ihr Magen zog sich zusammen, ihre Beine, ihre Lunge. „Hallo?“
Unerbittliche Schmerzen hielten Helena wach. Ihr Bett war unbequem, es war nass, kalt. Sie hatte die Füße nach oben gelegt, als die Welt begonnen hatte sich zu drehen und ihre Pupillen nach innen gerollt waren. In ihrem kaltschweißigen Elend nahm sie wahr, wie die Tür aufgestoßen wurde und Adrian darin stand. Er war wieder aus Löwenstein zurück. Jetzt thronte er unheilvoll in der offenen Zimmertür und ihr wurde klar, dass sie nicht in ihrem Bett, sondern auf dem Dielenboden des Anwesens lag. Die schwarze, drohende Silhouette beugte sich über sie. Helena hatte ihr Wort gebrochen. Sie hatte ihn verraten.
„Vergib mir...", hörte sie sich keuchen. "Ich hab versagt..“
„Jetzt reiß dich gefälligst zusammen.“ Eine Ohrfeige riss sie aus dem dichten Geflecht von Alptraum und seliger Ruhe, in die sie gedämmert war. Es waren nur Sekunden vergangen.
„Adya.“ Noch ein Schlag traf sie. Ihre Wange fühlte sich an, als wäre sie aus Watte. „Es tut mir so leid.“
„Helena. Reiß dich zusammen.“
Das Licht, das sie blendete, nahm ab in dem Moment, als sie sich dessen überhaupt bewusst wurde.
„Hermes?“
„Steh auf. Komm hoch.“ Schmale, vornehme Arme zogen sie nach oben. Arme, von denen sie Abstand und Berührungsangst gewohnt war, die sie jetzt aber fest packten und in die Höhe zwangen.
„Hermes“, wiederholte sie dünn gehaucht. All ihre Überrascht wandelte sich in Zärtlichkeit, für die es keinen leicht verständlichen Grund gab, als sie die Hände nach ihm streckte und sein Gesicht umfassen wollte wie einen süßen Trost, der zerbrechlich genug war, als dass man ihn beschützen und behüten musste. Als sie an den ebenen Jadezügen unter seine schwarzen Haarsträhnen fuhr, drehte er das Gesicht und riss sie mit sich.
„Ich dachte du wärst Adrian. Ich bin nicht zu Hause“, säuselte sie.
„Nein.“ Seine Stimme klang bemüht. Sie bemerkte, dass er sie trug. „Offensichtlich nicht.“
„Woher kommst du?“ Alles was geschah reichte wie durch einen Opiumtraum zu ihr hin. „Wie hast du mich gefunden?“
„Du warst im Östlichen“, sprach er. Er klang geradewegs herablassend aufgrund ihrer Missachtung der Wahrscheinlichkeit, dass er davon erfuhr. „Du hast in der Sackgasse Stoff gekauft. Das gestreckte Zeug, Helena.“
„Also hat es dir einer deiner Leute geflüstert. Ich wusste nicht, dass du in der Stadt bist.“
Er hob das Kinn, als sie seinen Hals umschlang und ihre Stirn wie das schlafende Kind gegen seine Brust lehnte. Es war schwer zu glauben, dass sie ihn nicht leiden mochte. Sie umarmte ihn wie eine romantische Erinnerung, die sie mit ihm verband und das musste Hermes, selbst wenn Helena davon nichts mitbekam, völlig unverständlich sein.
„Ich war in der Sackgasse, Helena. Du hast überhaupt nichts gesehen. Was ist passiert?“
Als sie die Augen aufschlug, war er immer noch da. Er saß an der Seite ihres Betts in ihrem alten Elternhaus und blickte in ein staubiges Buch, das Leon gehörte. Alles an seiner ihr abgewandten Haltung strahlte aus: Ich tue das nicht für dich.
„Aber du tust es“, sagte sie sanft, setzte sich auf und blinzelte, als er seinen grellen Blick fragend nach ihr umwandte. „Und das ist die Hauptsache.“
„Du bist wach.“ Hermes warf einen Blick auf ihre trübe Gestalt, effektiv sah er sie nicht an, er ließ sich nicht von ihr einlullen und war von der Suggestivkraft ihrer Ausstrahlung weder hingerissen noch angetan. Er handelte nüchtern und vergeistigt und bewegte sich dabei auf Ebenen, die den meisten Menschen zu hoch waren, als dass er ihnen in seiner Art erreichbar schien.
„Hast du mich wirklich geohrfeigt, Hermes?“
„Ich hab es dich wirklich glauben lassen.“
„Und hast du es getan?“
„Ist das wichtig?“
„Ich erinner mich nicht. Hab ich dir erzählt, was passiert ist?“
Sie fühlte sich genau beobachtet, nicht nur äußerlich, auch innerlich. Zu dankbar, sich abzuwenden und sich dieser Abtastung, die einzig und allein durch seine sehr hellbraunen Augen vonstatten ging, zu entziehen, ließ sie die Gewissheit über sich ergehen, dass er, ganz gleich, wie viel sie ihm tatsächlich gesagt oder wie viel er aus ihr herausgelesen hatte, in jedem Falle glaubhaft den Eindruck entstehen lassen würde, er habe ein geheimes Wissen über sie, von dem es ihr lieber gewesen wäre, er hätte es nicht.
„Hermes. Lächle nicht so. Hab ich es dir erzählt?“
„Du musst weg von dieser Sentimentalität, Helena, und dich fragen: Willst du wirklich dieses Mädchen sein?“
„Der Mann trat aus dem Nirgendwo um kluge Ratschläge zu erteilen.“
„Vorher las er das Mädchen vom Straßenboden auf.“
„Du hast mich verfolgt.“
„Helena.“ Er fixierte sie ohne Unterbrechung. Ihre feine Nase drehte sich resignativ, nicht ohne Trotz, zum Fenster hin. „Hörst du mir zu?“
„Soll ich es Adrian gestehen? Was, wenn er mich wegschaffen lässt.“
„Ein bisschen spät, anzufangen, sich Gedanken darüber zu machen, oder?“
„Ich war so sicher, dass ich stark genug wäre.“ Helena brach überrascht ab, als Hermes' Hand in die Höhe fuhr, zur selben Zeit wie er sich erhob.
„Ich will nicht wieder deine Versagen aufgezählt bekommen.“ Er hatte eine sanfte, höfliche Stimme, die ihn von der Welt und den Menschen darin distanzierte. „Oder dass es zu früh war, zurückzukehren. Wenn ich Leon einen Gefallen damit tue, bring ich dich weg. Keiner wird dich finden.“
Helenas Augen wuchsen im Schimmer eines schreckhaften Gedankens. Wenn sie noch träumte, und dieses Hirngespinst nicht Hermes war, sondern jener Vendetta, den sie in ihren schattenumwobendsten Augenblicken mit der unbegrifflichen Todessehnsucht eines ihr eigentlich fremden Denkens verbunden hatte...!
„Keiner?“
„Zu deinem Cousin kann ich dir keinen Rat geben. Ich kenne ihn kaum und aus meiner eigenen Erfahrung kann ich abschätzen, dass er nicht sonderlich große Stücke auf mich hält.“
„Kannst du nicht bleiben, Hermes?“
„Wo bleiben?“
„Hier.“
Seine ernsten Augen, die wie Mandeln geschnitten waren, wurden schmal. Das Widerstreben darin reichte fast hin bis zur Feindseligkeit.
„In Götterfels. Meine ich.“ Helena hob eine Hand, als wolle sie einen Schlag abwehren.
„Eine Weile vielleicht, wenn es hilft. Aber was ich noch sagen wollte. Die Angelegenheit mit eurem Boss musst du allein klären. Ich bin aus diesem Geschäft raus. Ich sitze hier nur als ein alter Freund.“
„Meines Bruders.“
Er blinzelte. Ohne dass er auch nur den nötigsten Muskel verzog, gewann sie den Eindruck, dass er schmunzelte.
„Ehrlichkeit ist nicht immer der Schlüssel“, sagte er dann. „Manche Wahrheit ist da am Besten aufgehoben, wo keiner sie findet.“
„Ich hab in letzter Zeit viel zu viel gesagt.“
„Allerdings.“
„Götter. Hermes, was hab ich dir erzählt.“
Und wieder machte er dieses Gesicht von Wissen und Verschwiegenheit, bei dem Helena all die Gründe einfielen, aus denen sie ihn nicht mochte. Aber dieser rationalen Einstellung zum Trotze war er gerade mehr Rat und Beistand, als sie es ihm je zugetraut hatte.
„Du hast Recht“, murmelte sie und stand auf. „Gerade kommt mir einer sehr Recht, der sein Urteil für sich behalten kann.“
Er beobachtete sie mit Leben in seinen Augen, das ihr fern und fremd war, ihr und wahrscheinlich allen anderen.
„Wo gehst du hin?“, fragte er.
„Ins Anwesen. Mit dir. Dort bezahle ich dir etwas. Und dann reden wir darüber, dass du mich fortbringst.“
„Ich will kein Geld.“ Als er auf sie zukam, erkannte sie, dass er tatsächlich nicht aussah, als würde er Silber brauchen oder für Gold auch nur eine Verwendung haben. So konnte er unmöglich in der Sackgasse gewesen sein. Er war, in seiner ganzen Beschaffenheit, eine Täuschung. „Ich will etwas anderes.“
Er trug sie bis nach Hause, ohne dass jemand sie sah. Dort hörte Helena sich Leons Boten an.
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