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„Dann musst du andere Maßnahmen ergreifen.“ Hermes saß seelenruhig auf dem langen Liegesessel, aber er hatte die Füße zu sich herangezogen und auf dem Polster, wo normalerweise seine Beine hätten sein sollen, ordnete er Nusshälften ihrer Größe nach an und warf sie, sobald er fertig war, mit ungerührter Miene wieder durcheinander. „Du kennst bestimmt ein paar alte Tricks aus der Geschichte deiner Familie.“
Helena studierte ihn. Auch wenn er sich über die Jahre verändert hatte, fand sie an ihm nichts, woran sie diesen Eindruck festmachen konnte. Es war als wäre er auch jetzt im ständigen Wandel, als bewege sich etwas an seinem Ausdruck, aber immer so, dass man es nur aus dem Augenwinkel sah, und wollte man es einfangen, war da nichts außer seiner stillen, unbewegten Erscheinung, die sich so ernst und würdevoll ausnahm wie eine Statue aus braunem Jade.
„Es gibt Möglichkeiten, zu verhindern, dass die Schuldner den Respekt vor einem verlieren.“
„Wovor fürchtest du dich dann?“
„Glaubst du, sie haben von meinem Abstieg im Rang erfahren?“
„Ist das deine Angst?“ Er blickte auf, aber nur kurz. Die Nüsse hielten ihn beschäftigt. „Geht es also nicht nur ums Geschäft?“
„Doch.“ Helena striff die Verblendung von sich, die sie wie einen Schleier viele Wochen lang getragen hatte. Sie stand auf und setzte sich neben seine Linie aus Nusshälften. Das missfiel Hermes, denn er sah auf und sie lange an. „Hilfst du mir, Hermes?“
Sie sah kein Abwägen in seinem Gesicht. Sie glaubte ein Lächeln um seine Lippen zu sehen, aber wieder war es so, dass sie, wenn sie genauer hinschaute, unbewegt im Ruhezustand lagen.
„Nein“, sagte er dann. Bevor Helena die Gelegenheit bekam, es persönlich zu nehmen, sammelte er alle Nüsse zusammen und legte sie in ihren Schoß. Er behielt nur eine.
„Lynn wird dir helfen.“ Diese letzte warf er sich in den Mund, als er ging.
„Wach auf.“ Lynns Stimme war leise. Sie war freundlich und geduldig, als sie dem Mann die Hand über Mund und Nase legte. „Das hilft bei Alesha wenn er schnarcht“, flüsterte sie über ihre Schulter und Helena hörte es, aber sie reagierte nicht. Ihre Augen standen auf den Bettler gerichtet, zu dem sie gegangen waren. Der arme Mann hatte damals schon alles verloren, als seine Familie beim Angriff auf Fort Salma umgekommen war. Seitdem hatten ihn der Suff und der Schnee, schlimmer noch, er rauchte den Stoff aus einer Pfeife, was jeden Rausch stärker und kürzer und das Verlangen nach dem nächsten Schub heftiger machte. Es hatte ihn seine Haut und seine Zähne gekostet. Sein Geld schon lange davor. Heute Nacht waren sie zu ihm gekommen, als er frierend in einer der Hinterhausnischen gedämmert hatte, in denen sich die Obdachlosen der Stadt gern einquartierten. Sie mussten über den beißenden Uringeruch und über den Gestank von altem Schweiß hinwegsehen, als sie ihn weckten und stützten und fort brachten, und beides war erträglicher als die undefinierbare Note, die sich noch dazwischenmischte. Orangefarbene Flecken und Bröckchen auf seiner Kleidung sagten einem mehr als man dazu wissen wollte.
„Hallo, guten Morgen. Aufstehen, mein Lieber“, grüßte Helena den Mann lind wie ein Sonnenstrahl in der Nacht, der einen wachkitzelte. In Wahrheit war es natürlich Lynns Griff, durch den er aufgewacht war und sich aufgerichtet hatte, geblinzelt hatte, geschmatzt, sich umgesehen – er war verwirrt und konnte sich in der neuen Situation nicht zurechtfinden.
„Mir ist kalt“, sagte er immer wieder, denn das war eines der wenigen Dinge, die zu ihm durchdrangen. Er war zu lange schon hungrig, um einen klaren Gedanken zu fassen. Wem es wie ihm am Allernötigsten fehlte, brachte keine Skepsis mehr zustande, und auch keine Glücksgefühle. Er ging mit den Frauen mit, ohne sich bei ihnen zu bedanken und brach, obwohl er alles annahm, nur selten aus seiner Lethargie.
„Morgen früh kommen wir wieder.“
Er war in dem Haus in Salma, in das sie ihn brachten, nicht allein.
Im Stillen wunderte sich Helena darüber, dass Lynn ihn in ihrem Bett schlafen ließ, ohne dass der Mann zuvor ein Bad genommen hatte.
Sie kamen in der Tat in aller Frühe zurück. Zu diesem Zeitpunkt hatte Helena bereits beschlossen, dass der Mann Paul heißen sollte.
Sie wollten ihn waschen, er schämte sich, also ließen sie ihn allein. Sie gaben ihm zu essen, dann schnitt Helena ihm das Haar und den Bart kürzer, sodass Lynn ihn rasieren konnte.
„Ich hab so lang an Essen gedacht“, sagte der Bettler zu Lynn, als er nicht einmal eine Scheibe Zwieback herunterbekommen hatte. Seine Bewegungen waren langsam und schlecht koordiniert. „Und jetzt ekel ich mich davor. Es ist zu lang her...“ Es klang höflich, wie eine Entschuldigung dafür, dass er ihr Gastgeschenk ausgeschlagen hatte.
"Sorg dich nicht, das ist schon in Ordnung. Das wird von Mal zu Mal besser werden, du wirst sehen."
Während sie den Mann herrichteten, sprachen sie über alltägliche Dinge.
"Ich glaube Sophie meint das mit Arian wirklich ernst“, erzählte Lynn, und sie fragte: "Nimmst du es mir eigentlich übel, dass ich mich mit Lucas so gut verstehe? Ich meine sowas wie das Badehaus zum Beispiel..."
Helena nahm sich des Mannes ohne Ekel an, obwohl ihm etwas anhaftete, eine Schmutzigkeit, die weder Wasser noch Seife abwaschen konnten. Er ließ alles über sich ergehen, als widerführe es ihm nicht selbst. Sie nahm Lynn gar nichts übel.
"Was ist denn mit Sophie und Arian. Ist das was Offizielles? Ich hab sie ein paar mal zusammen gesehen. Ich hab Lucas gesagt, er soll mit dir reden, du kennst ihn besser."
"Ich bin nicht ganz sicher. Sophie sagt, er küsst gut. Und Lucas ist nicht gerade glücklich über Arian." Lynn schmunzelte. "Ich amüsier mich drüber. Sophie, die sagt, sie mag sanftmütige, liebevolle Männer und dann ausgerechnet Arian und Adrian nachsteigt. Kann sie mir sagen, was sie will, sie steht auf die bösen Jungs."
"Sophie muss sich wahrscheinlich noch finden."
Lynn behandelte Paul, als sähe sie nicht den Menschen, der unter dem Bart zunehmend deutlicher hervortrat. Und Helena glaubte zu wissen, welche Geisteshaltung sie dazu veranlasste. Sie wollte ihn nicht sehen. Aber unter all seinen Verwahrlosungen, die sie nach und nach von ihm abgenommen hatten und selbst bei seinen schlechten Zähnen, von denen er kaum noch welche besaß, brachten sie einen schönen Mann zum Vorschein. Die Anzeichen, dass sich früher einmal junge Mädchen um seine Gunst gestritten haben mussten, waren traurige Schemen, die in seinem zerrissenen Gesicht übrig geblieben waren. Seine Augen waren leer. Dort Leben hinein zu bekommen würde die schwerste Aufgabe werden.
"Und uns geht es doch auch nicht so anders als ihr, oder? Einserseits wünschen wir uns vielleicht, auf ganz blöde Weise, diesen liebevollen Umgang. Wir wollen aber trotzdem keinen langweiligen Otto Schneider."
Als der Mann rasiert und sein zotteliges Haar in vorzeigbare Form gebracht war, als Helena ihn sich dann ansah, konnte sie nicht anders, als ihr zierliches Kinn beeindruckt zu heben und zu senken.
"Ich weiß ja, warum ich keine Bärte mag", murmelte sie. "Wir haben etwas zum Anziehen für dich. Deine alten Sachen waren ja nicht mehr tragbar."
„Meine alten Sachen hab ich nicht gewechselt seit...ich weiß gar nicht.“ Der Mann lächelte rüde, durchaus nicht wie ein dummer Mensch. Das Leben hatte ihn nur mitgenommen, zu weit, als dass es für ihn noch ein Zurück gäbe, obwohl er selbst das vielleicht nicht so sicher wusste wie die jungen Frauen, die ihn wieder auf die Beine gebracht hatten.
Auch wenn er in den neuen Kleidern und mit zunehmender Dauer auftaute, war er kaum zu irgendwelchen Aktivitäten zu bewegen und blieb schwer zum Reden zu bringen. Viel sagten sie allerdings nicht zu ihm. Sie wollten sein Leibgericht von ihm wissen, das war eines der Dinge, die sie ihn immer wieder fragten, und er erinnerte sich nicht.
„Irgendetwas, was du gern isst“, schlug Helena vor.
„Meine Frau hat früher Maultaschen gemacht“, sagte er irgendwann. „Jeden Sonntag gabs die.“
Lynn warf einen Blick zu Helena. Als sie nickte war klar, dass es diesen Abend Maultaschen für Paul geben würde. Er bekam sie in einer Suppe, damit es schonend für den Magen war, und Vito ließ noch einen feinen Nachtisch für ihn mitgeben, der aus rahmigem, süßem Frischkäse bestand, unter den er Kirschen, Pistazien und kandierte Früchte gehoben hatte. Das hatte er mit Sherry und flüssiger Schokolade begossen und so wurde es Paul vorgesetzt. Der Mann aß nicht viel davon. Er weinte, als er die Petersilie in den Maultaschen roch, weil seine Frau sie genauso gemacht hatte, und Helena sah es als ihre Pflicht, ihn zu trösten, vielleicht auch, weil sie glaubte, dass Lynn es nicht tun wollte.
„Das Leben geht immer weiter. Deines aber nur, wenn du isst, Lieber“, sagte sie zu ihm. Sie legte ihre Hand auf seinen Rücken und blieb dort, bis er zumindest ein paar Löffel gegessen hatte. Es war enttäuschend, dass er nicht mehr wollte und es nicht genießen konnte. Immerhin vom Nachtisch schaffte er die Hälfte. Er sagte nichts und lächelte nur fragend, als Helena ihm einen eleganten Hut auf den Kopf setzte, der die kleinen Schwächen ihres Haarschnitts verbarg.
„Du bekommst von uns noch ein paar Kupfer und dann lassen wir dich wieder gehen. Du kannst dann ein Zimmer im Hals nehmen und versuchen, eine Arbeit zu finden.“ Helena verschwendete keinen Gedanken daran, ob der Mann, ihr Paul, den sie sich geschaffen hatte, wirklich vorhatte, dies zu tun. Auch Lynn beschäftigte sich mit anderen Dingen. „Aber jetzt, wo wir dir so geholfen haben...“ Helena sank vor ihm in die Hocke. Sie blickte zu ihm auf. Sie wusste nicht, wie seine Tochter ausgesehen hatte, aber er hatte angedeutet, dass sie jetzt in ihrem Alter gewesen wäre, hätten die Mordrem sie nicht erwischt. Obwohl er sie gezielt nicht ansah, hielt sie ihre Augen weit offen und so rund sie konnte. Sie waren so geschnitten, dass die äußeren Lidränder leicht nach oben zogen, sodass immer ein Anteil von Forscherdrang darin saß, aber gerade hatten sie schon gefunden, was sie suchte, und sie erforschten überhaupt nichts. Sie standen ruhig auf sein Gesicht gerichtet, das nach vorn schaute anstatt zu ihr zurück. „...musst du auch eine Kleinigkeit für uns tun. Du kannst uns bestimmt helfen.“ Sie zog sich zurück, in den Hintergrund seiner Wahrnehmung, wo Lynn ihr etwas reichte. Sie kam mit einer dünnen Glasröhre zu ihm zurück und legte sie ihm auf den Oberschenkel. „Hier ist eine Eispfeife.“
Paul war beschämt und erleichtert. Seine Hände öffneten und schlossen sich. Er sah so unglücklich und erfreut aus wie bei keinem Geschenk zuvor.
„Und hier ist das Eis.“ Sie ließ ihn rauchen. Dafür wendeten beide Frauen sich ab und wechselten stille Worte.
„Tulio sollte schon hier sein...wo bleibt er?“
„Soll ich nach ihm sehen?“
„Nein, bleib hier, Lynn.“
Sie gaben Paul zuerst nur ein bisschen von dem Eis. Es weckte falsche Lebensgeister in ihm, Trugschlüsse, die er für Freude und Energie hielt; in Wahrheit waren es nur fremde Schnüre, die ihn auf die Beine zogen. Als Tulio kam, brachten sie den Bettler nach Shaemoor.
„Der darf sein Maul aber nicht aufmachen“, sagte Tulio, als er den Mundinhalt des Mannes gesehen hatte. Und mehr sagte er zu der gesamten Umsetzung nicht.
In dem Haus in Shaemoor gaben sie ihm den Rest vom Eis.
„Sie kommen bald“, sagte Lynn irgendwann.
Helena nickte es ab. Sie prüfte ihre Röcke, ihre Bluse, ihr strahlendes Haar. Dann ging sie noch einmal zu Paul.
„Nachher, wenn die anderen kommen, stelle ich dir eine Frage. Du musst einfach nur den Kopf schütteln. Nur den Kopf schütteln und gar nichts sagen, mehr nicht. Machst du das für mich?“
Sie hatten ihn rauchen lassen, bis er keine Fragen mehr stellte oder sich zumindest nicht mehr für die Antworten interessierte. „Schüttle den Kopf, wann immer ich dir eine Frage stelle, dann bekommst du das Kupfer und noch ein bisschen mehr Eis von Lynn. Hast du verstanden?“
Paul hob den Kopf und fixierte Helena. Er schüttelte den Kopf.
Sie war einen Moment lang perplex. Bis er lächelte.
„Oh gut.“ Auch sie lächelte augenrollend. „Und tu das nicht. Nicht – lass den Mund einfach zu.“
Nach und nach trafen die Gäste ein, von denen Helena vorher als 'die Anderen' gesprochen hatte. Es waren allesamt Geschäftsmänner in langen Mänteln, viele von ihnen hatten einen ähnlichen Hut auf wie der, den Helena Paul geschenkt hatte. Lynn und Tulio begrüßten die Herren nacheinander, boten ihnen Getränke an und führten sie nach einem kurzen Plausch in den vorderen Räumen in das hinten gelegene Beratungszimmer. Hier war nicht geheizt worden, es war kühl, die Luft stand, obwohl sie extra die Türen offen gelassen hatten. Es gab nur ein einziges Fenster, das nicht reichte, um den gesamten Raum auszulüften. Die Herren nahmen auf Ripsmöbeln um einen Tisch Platz. Es fiel gar nicht auf, dass der Stuhl, auf den Lynn Paul setzte, kein solches Polster hatte. Manche der Männer kannten einander und grüßten sich wie Freunde, andere sahen sich an wie Rivalen oder Fremde. Als man am Tisch saß, kehrte einvernehmliches Schweigen ein. Lynn und Tulio waren mit im Raum, saßen aber nicht am Tisch. Tulio stand in der Nähe der Tür und war für weitere Getränkewünsche zuständig, Lynn wartete an die Wand gelehnt und drehte Zigaretten für die, die welche wollten.
„Wertgeschätzte Herren.“ Für Helena war ein Platz am Ende der Tischlänge frei gelassen. „Und meine Dame.“ Aber sie hatte darauf verzichtet sich zu setzen, sondern stand, um die Männer zu überragen, etwas seitlich davon und neigte bei ihrem letzten Gruß der einzigen Geschäftsfrau in dieser Versammlung mit einem süffisanten Lächeln den Kopf entgegen, als wäre sie selbst einer der Männer, ein Charmeur, der die Blume inmitten der Dornen ehrte. „Ich muss meinen Dank dafür ausdrücken, dass Ihr alle diesem sehr spontanen Termin gefolgt seid. Ich weiß, ich war wieder etwas kurzfristig. Aber der Anlass ist entsprechend wichtig. Mir kam etwas zu Ohren und ich möchte, nein muss, sichergehen, dass es sich dabei um Gerüchte handelt.“
Einer der Männer meldete sich per Handzeichen zu Wort.
„Nein, Herr Sturmhagen, es ist jetzt noch nicht Zeit, mir schon Widerworte zu geben.“
„Ich möchte sagen-“
„Und dass Ihr mir dennoch ins Wort fallt bestärkt mich in meinem Glauben. Die Geschäfte gehen so leger daher in letzter Zeit. Sie plätschern so halbherzig! Und mal stehen sie still. Einige hier am Tisch kennen sich, andere nicht. Aber eine Sache haben alle hier gemein. Ihr alle hier habt euch von mir Geld geliehen und ihr alle lasst mich darauf warten. Ich bin ein geduldiger Mensch, das können die Götter bestätigen. Aber muss ich mir wirklich anhören, dass einige nun zu glauben beginnen, sie müssten mir, was mir gehört, nicht wiedergeben, zu glauben beginnen, sie seien dazu berechtigt mich zu bestehlen – denn sie bestehlen mich! - aufgrund privater Veränderungen im Kreise meiner Familie, die niemanden angehen?“ Ihr Ton war scharf geworden im Zuge ihrer Ausführungen, und ärgerlich. Lynn vermochte nicht sicher zu sagen, ob es echt war oder gespielt. Außer ihr geriet keiner in Zweifel darüber, dass auch nur ein Quäntchen der Wut der jungen Iorga aufgesetzt sein mochte. Außer ihr bemerkte allerdings auch keiner den nervösen Seitenblick, den sie mit schnellen Augen einem neutralen Flecken zuwarf. „Ich will keine Moralpredigten harangieren, denn ich weiß, dass kaum einer hier am Tisch überhaupt viel davon besitzt! Ich will damit auch nicht meine eigene Zeit vergeuden, weil viele von euch mir das bereits vorweg genommen haben!“
Die Leute am Tisch tauschten wenige Blicke, mit denen sie einander ihrer Unzufriedenheit versicherten, darüber, so anders empfangen zu werden, als der erste Anschein sie erwarten ließ. Helena überging dies und alles weitere. Sie hatte sich konzentriert auf ihrer Darbietung festgefahren, steigerte sich in die Aspekte ihres Zorns hinein und ließ ihre helle Mädchenstimme über den Tisch knallen wie die Peitsche einer Sadistin. Der Widerspruch, der sich daraus ergab, war so erschreckend und irreführend, dass keiner auf die Idee kam, ihre Autorität in Frage zu stellen, obwohl von ihren Brüdern nichts zu sehen war. „Daher mach ich es kurz und knapp. Denn Zeit ist Geld, und ich lasse mir nicht beides von euch stehlen.“ Jetzt trat sie zu Paul. Als sie ihre Hand neben ihm auf die Tischplatte stützte und ihm ins Gesicht sah, merkte Helena, dass es ihr nicht gelungen war, seine Augen mit Leben zu füllen, doch die Illusion dessen kreiste im grau umkränzten Schwarz seines Blickes. „Wirst du bezahlen?“
Der Mann reagierte nicht gleich. Er hatte vor sich hin gestarrt und seinen Whiskey als erster von allen vollständig geleert. Erschreckend langsam hob er die Stirn, über der immer noch der elegante Hut saß und fasste Helena ins Auge. Helena glaubte wahrzunehmen, wie Lynn im Hintergrund die Muskeln spannte, scharfe Sinne umgaben sie wie einen Spürhund, dessen einzige Aufgabe darin bestand die Kontrolle einer Lage niemals aus der Hand zu geben.
Endlich erwachte Paul aus seinen Gedanken und schüttelte den Kopf. Er schaute wie ein Kind, das sich Bestätigung erhoffte und war kurz davor, zu sprechen. Helena und Lynn registrierten es beide.
Helena seufzte, hob die Hand. Lynn trat vor, richtete den Lauf an Pauls Schläfe und schoss ihm durch den Kopf.
Die Stühle rumpelten rückwärts, Leute polterten erschrocken aus ihrer trügerischen Ruhe, ein Mann fiel über die Tischkante, die Frau schrie spitz, einer blieb sitzen und brummte abfällig.
„Ich lasse mir gar nichts stehlen. Ich hoffe, mein Standpunkt ist jetzt allen klar. Und jetzt raus hier. In drei Wochen gibt es neues Treffen für die, die es bis dahin immer noch nicht verstanden haben. Solange verdopple ich den Zins.“
Keiner fragte sie, wie sie sich das erlauben konnte. Im Grunde wunderte sich auch keiner, denn sie alle, die sie hier waren, wussten, bei wem sie sich verschuldet hatten und dass sie aus anderen Quellen nicht hätten schöpfen können. Die Menschen räumten den Saal, die meisten schnell und schweigend, die Frau mit einem entrüsteten Gemurmel und der Mann, der bis zuletzt sitzen geblieben war, langsam und behäbig. An der Tür drehte er sich noch einmal um.
„Ich schicke morgen einen Kurier“, teilte er mit, dabei schaute er die über dem Tisch zusammengesackte Leiche an, schlürfte seinen eigenen Speichel zwischen den Zähnen zurück, und ging dann als letzter mit einem Kopfschütteln. Tulio geleitete jeden Gast nach draußen. Aber Lynn blieb bei Helena.
„Ich weiß, es war abgemacht, dass ich zweimal frage“, begann sie bei verschlossener Tür. Sie war von jetzt auf gleich sehr erschöpft und ließ die Schultern niedersinken, aber Lynn machte es gar nicht nötig, weiterzusprechen.
„Ich hab es auch gesehen“, war alles, was sie sagte.
Sie entsorgten Paul, wie sie es zuvor abgemacht hatten. Dafür hatten sie nicht ohne Grund genau dieses Haus gewählt. Warum blieb ihr Geheimnis. Geheimnisse, Lügen, Scharade und Tricks. Das war, wie man sein Geld zurückbekam, wenn man in solcherlei Geschäfte involviert war. Und dabei spielte es keine Rolle, ob man ein Mann war oder eine Frau. Das Geschäft nämlich kannte keine Geschlechter, kein Alter und keinen Stand. Als sie fertig waren, stanken sie beide nach Blut und etwas Schlimmerem. Helena wischte sich übers Gesicht, aber das machte es nicht besser.
„Essen wir heute Abend Apfelkuchen?“
Lynn rieb sich die Hände an einem versauten Tuch ab. Es war ebenso zwecklos. Dann drehte sie sich nach Helena um und nickte.
„Wie versprochen.“
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