Die kühle Brise, die einem Windhauch gleich singend über den kunstvollen Kristallglasrand hinwegzog, dabei Aromastoffe des lieblichen Roten mit sich in die Weite fort entführte wo sie sich in der Unendlichkeit der Nacht verloren, war untrügliche Kunde eines fernen Frühlings, dem es noch nicht gelang sich vollends von den eisigen Klauen des Winters zu befreien, und der noch umschlungen war von Frost und Ungemütlichkeit.
Mit dem bauchigen Rotweinglas in der rechten, die Handfläche nach oben zeigend, so, dass der Stiel zwischen Mittel- und Zeigefinger hindurchreichte, und der Glasbauch in der Handfläche ruhte, stand sie auf dem Balkon und blickte hinab in die spätwinterliche Stadt, die sich im Mantel der noch immer früh hereinbrechenden Nacht allmählich zur Ruhe begab.
Sie trug nichts weiter als einen seidenen Morgenmantel, einen weißen, über dem schwarzen Trägernachthemd das sie vor nicht allzu langer Zeit erstanden hatte. Ihr hatte gefallen, wie die schwarze Spitze sich von ihrer sommersprossigen Haut abhob, und mit dem dunklen Sprenkelmuster spielte, dabei schmeichelhaft ihre rundlichen Kurven umspielte.
Nun flatterten sowohl Nachthemd als auch Morgenmantel im kühlen Abendwind, fanden an ihrer ausgemergelten Figur kaum Halt und Form. Weiße Plüschschläppchen mit einem weißen Bommel obenauf rundeten das Bild ab – sie hätte gut ausgesehen, sich schön gefunden, wenn sie nicht so scheußlich dürr gewesen wäre. Sie hatte am frühen Abend gebadet, hatte das Haar gebürstet – und entsetzt festgestellt, dass sich ein Büschel ausgefallener, blonder Haare in den Borsten wiederfand. Wo der Nährstoffmangel ihr zunächst das Fett vom Leib geschmolzen hatte, raubte er ihr nun die Grundsubstanz.
Als Albert heimgekommen war, hatte er sie sitzend zwischen den Körben und Kisten gefunden die er in den letzten Tagen eingekauft hatte – Vorräte für die nächsten Wochen, denn er hatte vor seine Miss wieder zu alter Form aufzupäppeln. Überrascht, doch nicht im negativen Sinn, hatte er ihr dabei zugesehen, wie sie sich durch aus Löwenstein importierte Südlichtbucht-Früchte fraß, durch Törtchen und Windbeutel, durch Brot, Stuten, Brötchen. Die Marmelade löffelte sie gleich aus dem Glas – erst Pfirsich, dann Orange. Erst, als sie bemerkt hatte dass er sie beobachtet hatte, die ganze Zeit über, hielt sie inne – nur um dann, vielleicht vor Scham, vielleicht auch weil ihr erst dann auffiel was sie getan hatte, zum nächsten Kübel zu stürzen und sich die Situation noch einmal in Gänze durch den Kopf gehen zu lassen.
Das war nun einige Stunden her, und sie hatte zu Anmut und Würde wiedergefunden – insoweit ein Krüppelskelett soetwas besaß. Einer Galleonsfigur gleich, aus Ebenholz geschnitzt, glattgeschmirgelt von der Tide des Lebens, bildschön trotz der scharfen Kontraste ihres Gesichtes, und einer lockenden, tödlichen Verkündung nicht unähnlich, hob sie das Kinn an, als der Wind an ihrem Haar zerrte.
Es war verwunderlich, doch sie spürte nichts. Gar nichts.
Sie sollte frieren, doch sie fror nicht.
Sie sollte eifersüchtig sein, sich betrogen, belogen, benutzt, hintergangen fühlen, verliebt sein, fröhlich sein.
Doch sie fühlte rein garnichts.
Nichts, ausser einer stillschweigenden Herausforderung. Ein Gefühl, von dem sie beinahe vergessen hatte wie es sich anfühlte.
Sie hob das Weinglas an die Lippen und trank einen Schluck. Während der süßlich-liebliche Geschmack ihre Nervenbahnen kitzelte, blähte sie die Nasenflügel und sog die kühle Nachtluft durch die Nase ein, um dem Geschmack vollmundige Entfaltung abzuverlangen.
Sie fühlte sich klar und fokussiert wie lange nicht. Sie hatte Spiele gespielt die für sie nicht von belang waren, hatte sich an der Nase herumführen lassen.
Sie hatte sich zu lange ablenken lassen, hatte sich mit vergänglichen Nichtigkeiten beschäftigt, und dabei die wichtigste all ihrer Prinzipien vergessen.
“Profit um jeden Preis.“ sprach sie leise, mit sanfter Strenge in der Stimme, in die Nacht hinaus.
“Das ist mein Mädchen. Du hast alle Waffen die du brauchst. Du musst sie lediglich einsetzen.“
Die Stimme war hinter ihr wie aus dem Nichts aufgetaucht, und jagte ihr nun einen eiskalten, wohligen Schauer über den Rücken hinab. Wo sie sich kürzlich zerrissen gefühlt hatte, war sie nun wieder komplett. Ein ganzes.
Sie war alles. Die Erbin, die Matriarchin, die Ratsherrin, die Freundin, die Giftschlange, die Versuchung, die Rawson.
Und ein wenig entschied jeder selbst, welchen dieser Bauern sie dem Gegenspieler auf dem Schachbrett zuspielte.
Denn Schach war ihr Spiel.
„Ja.“ Sprach sie schließlich.
„Ich bin wieder da.“
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