„Iorgas. Ihr seid arrogant geworden. Ich glaube so, wie ihr eigentlich nie sein wolltet. Habt ihr das gar nicht gemerkt?“ Hermes spazierte durch die Küche als wäre es seine, sein Haus, seine Familie, die zu maßregeln er nicht nur im Stande, sondern auch verpflichtet war. Seine Augen, grell, canthanisch geschnitten und gefasst wie ein Kronjuwel, schwirrten herum, nahmen alles wahr, aber sie endeten auf Helena.
Sie saß allein am Küchentisch und flocht sich ein hellblaues Band in die Locken. Die Worte des Boten ließen sie in ihrer Fingerarbeit nicht einmal aufblicken. Mit spitzen Zügen passte sie sich der Physiognomie ihres Stuhls an, richtete das Kreuz gerade und wickelte das Band Strähne um Strähne.
„Wie meinst du das?“ Sie brachte nicht mehr als gelangweiltes Desinteresse auf für alles, was außerhalb ihrer einnehmenden Betätigung passierte.
Hermes lächelte leidlich.
„So wie ich es sage. Leute wie Lynn sind hervorragende Assoziierte. Aber sie machen es dir nicht gerade leichter, diese Blödheit abzulegen.“
„Pass auf wie du sprichst, Hermes, ich bin nicht Leon, der sich alles von dir anhört.“
„Oh, er hört sich bei Weitem nicht alles an. Und leider ist er am Rande auch befallen von dieser Krankheit.“
Mit einem gedehnten Atemgeräusch, in dem mehr steckte als Ernüchterung, ließ Helena die Hände sinken und suchte den Boten. Ihre Bewegung war forsch, um ihre zuckende Nase formten sich Zeichen der Warnung, aber auch eine Frage. Es genügte Hermes nicht, damit er sprach. Er blickte ihr seelenruhig entgegen und wartete, bis sie es von ihm verlangte.
„Da du sowieso immer alles besser und auch schon vor allen anderen weißt.“ Er musste nicht lange warten. Ihr sarkastischer Befehl kam quasi sofort. „Erhelle mich ein weiteres Mal, Valerian. Lass mich an deiner Weisheit, die du zu besitzen glauben musst, teilhaben.“
„Ihr seid früher schon herumstolziert als würde euch Ossa gehören. Jetzt könnte man meinen, ihr haltet euch für die Könige der ganzen Stadt. Ihr seid unsympathisch. Und es ist kein Wunder, dass so viele euch nicht mögen, ihr macht es ihnen ganz einfach.“
„Wir haben uns unseren Einfluss erarbeitet. Wir meinen es gut mit der Stadt! Wir bilden uns nichts ein, was wir nicht auch besitzen.“
„Selbst wenn das wahr wäre.“ Der Bote glitt von der Steinzeile weg, an der er gelehnt hatte. Sein Lächeln war kränklich geworden. „Würde es euch mitnichten zu solcher Arroganz berechtigen. Läuft denn die Königin herum wie eine Gottbegehrte? Ich hab es nie beobachtet und ich hab eine Menge Dinge gesehen.“
„Aber alles hast du nicht gesehen.“
„Aber zu viel von euch. Ihr seid bessergestellte Kaufleute. Sag mir mal eines, Helena.“ Er war an ihren Tisch gekommen, legte seine makellose Hand vor ihr ab und beugte sich zu ihr. „Was lässt dich glauben du seist besser als irgendwer? Wurdest du vielleicht aus einem goldenen Schoß geboren?“
Er bemerkte ihre Körpersprache und trat langsam zurück, um ihr Raum zu lassen für ihre empörte Wut, die sie einer Leitfigur der Würde und Tugendhaftigkeit gleich, die in ihren innigsten Werten gekränkt war, durch den Raum versprühte.
„Jetzt reicht es. Du bist zu weit gegangen! Ich lass dich-“
„Was?“ Hermes gehörte nicht der Sorte Mensch an, die andere unterbrach. Diesmal tat er es dennoch. „Willst du mich schlagen lassen? Einen deiner Laffen auf mich hetzen? Wenn du glaubst, dass du mich schlagen musst, dafür, dass ich dir wie schon immer die Wahrheit sage, dann tu es gefälligst selbst. Soviel verlang ich für mich. Gib mir diese Bestätigung, aber wir wissen beide, dass du mich niemals erwischen wirst.“
„Unfassbar, dass gerade DU mir Lehrstunden über Arroganz erteilen willst!“, sprach sie im Brustton unschlüssigen Ingrimms.
„Der Unterschied ist, dass ich nie anders war und nie vorgegeben habe, etwas anderes zu sein.“
Helena schwieg und bedachte ihn mit kalten Blicken.
Hermes erkannte, dass er sie getroffen hatte, vielleicht umso mehr, da sie nicht so taub war wie sie sich stellte. Er wusste auch, dass sie verletzt am gefährlichsten und törichtesten war und ihm vielleicht wider besseren Gefühls Lynn oder Leyla oder diesen neuen Mann auf den Hals hetzen wollte. Man konnte es als seine Aufgabe als der mit der reiferen Vernunft und größeren Weitsicht betrachten, es dazu nicht kommen zu lassen.
„Ich will dich nicht kränken. Ich sage das nicht, um dich zu beleidigen. Ich behaupte nicht einmal, dass du selbst nicht bemerkst, wie diese Änderung dich und deine Familie ergriffen hat. Ich werfe nur die Erwägung in den Raum, dass du dich einer Selbstbetrachtung entziehst aus Angst vor dem, was du bei einem genaueren Blick erkennen könntest.“
„Ich hab es mir anders überlegt. Ich verzichte auf deine Weisheit.“
„Du bist nicht so schlecht, wie du selbst es manchmal denkst. Aber du bist nicht so großartig, wie sie dich glauben lassen.“
„Wer lässt mich bitte so etwas glauben?“, fuhr sie hoch, als wäre die Darstellung, die sie sich anhören musste, im vollkommenem Maße absurd und aus der Luft gegriffen.
„Die, die Teil eurer mörderischen Vernetzung sind! Die, die zu euch gehören! Und irgendwelche Männer, ich weiß nicht, wo die immer herkommen. Die, die deine Freunde sein wollen, und die du am ausgestreckten Arm verhungern lässt! Sieh dir deine Freundin Elizabeth Rawson doch mal an.“
„Sehr witzig, Hermes.“ Helenas Satzmelodie hatte sich verdunkelt.
„Früher hast du gelacht, dich mit deinen Vettern geprügelt und bemitleidenswerte Obsthändler beklaut. Heute kannst du kaum mehr den Hals drehen, so steif ist er geworden.“
Helenas Oberlippe zuckte empfindlich. Missfällig griff sie nach dem kurzen Silberdolch, der auf dem Tisch lag, und schnitt die Enden des blauen Bandes ab.
„Siehst du, und das ist der Unterschied zwischen uns“, lächelte Hermes, indem er die Ellen auf den Tisch stützte und den gesamten schlanken Oberkörper in ihre Richtung schob. Er sprach butterweich. „Die Arroganz, die du mir vorwirfst, ist nicht mehr als mein Wesen. Sie wohnt mir natürlich inne. Du hast sie angenommen wie einen Fremdkörper.“ Er schwang zurück auf die Sohlen und vom Tisch weg. „Seither bist du entzündet, immer etwas gereizt. Lass es.“
„Blödes Gerede“, stieß sie abfällig aus. „Du bist so ein Dummschwätzer.“
„Ist das so?“
„Du lässt es klingen als spräche jeder meine Worte und Handlungen heilig. Unterstehe dich, Lynns Loyalität mit Unterwürfigkeit gleichzusetzen.“
„Das käme mir nie in den Sinn. Meine Loyalität ist meine uneingeschränkte Ehrlichkeit. Eine Sache, die sich Lynn dank ihrer Position nicht immer leisten kann. Falls du glaubst ich wollte sagen, Lynn wäre das Problem dann muss ich mich wirklich falsch ausgedrückt haben. Entschuldige. Du bist das Problem. Oder mehr was ihr, du und deine Familie, nach außen tragt.“
„Ja, Hermes“, antwortete Helena gereizt und verspätet auf seine vorherige Frage. „Es ist so!“
Der Mann betrachtete seine Finger, sah aber schnell davon auf. Sein Blick schoss auf Helena zu wie ein Wurfdolch.
„Wann hast du das letzte Mal Diarmai besucht?“
„Wann hast DU das letzte Mal Diarmai besucht?“
Er schwieg.
„Gut. Diesen Treffer muss ich einstecken“, sagte er dann. „Aber du verstehst, worauf ich hinaus will. Vergiss nicht, worauf dein schönes Leben fußt. Es ist ein Unterschied ob man wächst oder ob man nur den Hals langmacht.“
„Ich verstehe“, murmelte Helena und es klang wie ein Zugeständnis.
Aber der Giftdorn saß zu tief. Er fühlte es. Sie konnte nicht vergessen, was er ihr ins Gesicht gesagt hatte und war von diesem Zustand falschen Stolzes, den sie nie gewollt hatte, schon zu verseucht. Er musste den Splitter der Vermessenheit mit einem Ruck ziehen wenn nicht alles was er gesagt hatte völlig fruchtlos bleiben sollte. Er musste sie kommen lassen.
Sie hatte Unterricht genommen, der sich gefährlich auszahlte. Hätte er nicht gewusst, dass sie seine Aussagen nicht auf sich sitzen lassen konnte, stäke Helenas Dolch jetzt in seinem Oberschenkel. So aber rutschte die Schneide an der Schrankkante ab, und bis sie begriff, dass Hermes mit ihr gerechnet hatte, hatte er bereits seinerseits Energien kanalisiert und stand hinter ihr. Die Grobheit, mit der er sie packte, war Helena völlig neu an Hermes. Er war so dicht wie noch nie, als er ihre Bewegungsfreiheit von einem Herzschlag auf den nächsten zernichtete. Sie stand gegen den Schrank gepresst und spürte seine Brust und Hüfte in ihrem Rücken. Alles an dieser Nähe war falsch. Ein unerklärliches Schrillen von Beengung überkam sie, die sich anfühlte wie Worte, die in einer fremden Sprache gesprochen wurden. Da verstand sie, dass es nicht ihr Widerwille war, den sie wahrnahm. Es war seiner.
„Mach nicht den Fehler, zwei Dinge zu verwechseln“, drohte er an ihrem Ohr. „Die Macht, die dein Name hat. Und die Macht, die du selbst hast.“
Als sie begann, den Schmerz in ihrem Handgelenk zu fühlen, war er schon vorbei. Er hatte abgelassen. Er war sogar schon in der Nähe der Diele.
„Ich bin nicht dein Feind“, hörte sie seine strenge Erinnerung. „Cird ist nicht dein Feind. Elizabeth Rawson ist nicht dein Feind. Anna nicht. Lynn nicht. Leon ist nicht dein Feind. Wahrscheinlich ist nicht mal dieser Lucas dein Feind. Hör auf, uns dazu zu machen. Sonst hast du irgendwann keine Freunde mehr.“
Helena drehte sich nicht um und hielt nur das Kinn zittrig aufrecht, bis er gegangen war.
Dann rannte sie durch die Stockwerke in ihr Zimmer mit den weißen Möbeln und warf sich vor den Spiegel. Sie hatte die alten Kleider an, mit denen sie sich früher in den Straßen herumgetrieben hatte und sah sich ins Gesicht. Die graue Lederkapuze hatte sich durch den stürmischen Ruck auf den Schemel über ihren Kopf geschlagen. Darunter, aus unerfindlichen Abgründen steigend, stand immer noch wie eine Glasur aus Kohle, Gold und Elfenbein die Herrschsucht in ihren Augen.
„Oh nein“, murmelte sie.
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