„Willkommen zurück, Helena. Hast du viel gelernt beim kleinen Schwätzer?“
Sie hatte Adrian im Wohnzimmer gefunden. Oder er hatte sie gefunden. Es fühlte sich eigentlich eher an wie zweiteres, obwohl er schon da gewesen war, als sie in den Raum eintrat.
Er saß auf einem der Stühle entlang der Wand, hatte ein Buch auf dem Schoß und ein Glas mit hellgrüner Flüssigkeit zwischen den Fingern, das er so vornehm hielt wie ein Prinz.
„Ich hab einiges gelernt. Kann ich dich kurz sprechen?“
„Du bist doch bereits dabei.“
Ihr fiel störend auf, dass er das Buch nicht weglegte. Dass er auch nicht richtig Willens schien, davon aufzusehen. Sein Haar lag perfekt, so ordentlich und glänzend, als könnten ihm Zeit und Widrigkeiten nichts anhaben. Dafür leuchteten Ränder um Adrians Augen, die sie von ihm eigentlich nicht kannte.
„Zuerst mal“, setzte sie an, musste stocken, um sicherzugehen, dass er ihr wirklich zuhörte. Als auf ihr Schweigen hin seine Braue ungeduldig zuckte, fuhr sie fort. „Warum liegt ein verbrannter Ratgeber über Frauen im Papierkorb im Büro?“
„War ein Geschenk.“
„Ehrlich?“ Sie lächelte und sah unmittelbar aus wie ein Kind. Er verschwendete nicht einen Blick an ihre hell aufblitzenden Augen oder die Locken, die an den Seiten derer weit abfielen.“Hast du's gelesen?“
„Ich hab vielleicht mal drin rumgeblättert. Anya sagte ich bräuchte es nicht. Es ist auch nicht das fesselndste Buch, das ich jemals gelesen hab. Warum?“
Adrian hob den Blick. Als er Helena direkt traf, fühlte sie ein Flimmern im Bauch, das nicht von seinem Ausdruck ausgelöst wurde, sondern von ihrem Schrecken über die dunklen Ringe, die wie aufgemalt aussahen. Sie kannte nicht viele Leute, die mit so wenig Schlaf auskamen wie Adrian. Normalerweise ohne dass es Spuren trug.
„Es stinkt verbrannt. Der Papierkorb ist nicht geleert worden. Das Büro war abgesperrt.“
„Achso. Ich bin nicht oft drin zur Zeit. Vito soll sich drum kümmern.“
„Ist alles in Ordnung, Adya?“
„Es ist alles in Ordnung, Helena. War das, worüber du mit mir reden wolltest?“
„Nein.“ Ihre Hände griffen ineinander und lockerten sich sofort wieder. Mit drei unruhigen Schritten vereinnahmte sie den benachbarten Stuhl an der Wand. „Ich wollte mit dir über ein paar Leute reden.“
„Falls du vorhast, mich in die Sache mit Lucas reinzuziehen-“
„Hab ich nicht.“ Helena hielt inne. „Welche Sache?“
„Du hast meine Nachricht doch bekommen, oder?“
„Ja. Richtig. Ich hab ihm geschrieben. Weißt du, es ist ja nicht so, als würde nur ich sehr sporadisch Kontakt aufnehmen.“
„Leni, was hab ich gerade gesagt?“
„Ich zieh dich nicht mit rein!“
„Also was willst du dann?“
Sein unverfänglicher Ton, der sich seinem ruinös schattierten Blick entgegensetzte, war wie ein Alarmschrillen in ihrem Kopf, leise und weit hinten zwar, aber unverkennbar. Adrian überspielte makellos, was immer ihn dazu trieb, so auszusehen. Doch allein die Tatsache, dass er so aussah, vereitelte seinen Plan.
„Betty war mit euch bei dem Essen bei Gwennis, oder?“
„Ja. Und dein Taschenspieler war auch da.“
„Hat sich Betty irgendwie komisch benommen? Sie ist vorgestern in der Rurikhalle an mir vorbei gelaufen, als wäre ich nicht da.“
Endlich legte Adrian das Buch fort. Er richtete in einer müden Bewegung seinen Oberkörper auf, trank einen Schluck und bot Helena dasselbe Glas an. Sie nahm es allein aus Irritation, aber das scharfe, würzhaltige Brennen, als sie kostete, hielt sie zurück, ein zweites Mal zu trinken.
„Elizabeth ist ein bisschen wie ein Wetterhahn“, urteilte er. „Der Wind ist dabei ihre Gemütsverfassung.“
„Wie meinst du das?“
„Sie schwört einerseits ihre Treue, will dabei sein, dabei bleiben, opfert sich auf, beweist ihren Wert, verschafft sich Sympathie, verspielt sich dann alles. Wenn etwas nur fest genug gegen ihren Willen verstößt, egal ob es gegen sie gerichtet ist oder nicht, zeigt sie der Welt das Gesicht ihrer Verachtung.“
„Kannst du etwas klarer werden, Adrian? Ich hab das Gefühl, Vendettas Haus nie verlassen zu haben.“
„Ich glaube, sie hat sich abgewandt. Klar genug?“
Er wollte sein Buch wieder nehmen und weiterlesen als wäre nichts, aber Helenas milde Hand unterband sein Vorhaben mit Nachdruck, indem sie auf die Seiten fiel und das Buch niederdrückte.
„Und weshalb? Letztens war doch noch alles gut?“
„Keine Ahnung, Helena. Scheinbar sind wir wegen irgendwas bei ihrem Urteil durchgefallen. Sie entscheidet sich ständig hin und her, oder? Woher soll ich es wissen? Sie will treu sein, aber kommt gegen ihre eigenen Unannehmlichkeiten nicht an. Ihre Unannehmlichkeiten gewinnen die Überhand.“
„Hast du dein Vertrauen verloren? Du weißt selbst, dass das mit Gwennis nicht leicht ist. Übrigens hab ich der versehentlich vom Geburtstag erzählt. Ich dachte du hättest sie gefragt, ob sie mitwill.“
„Hast du sie beim Geburtstag gesehen?“
„Nein. Desw-“
„Wie kommst du dann auf die Idee, ich hätte sie gefragt?“
Sein Ton war ruppig geworden. Es beruhigte Helena, denn er passte jetzt besser zu seinem Äußeren.
„Es hätte andere Gründe geben können dafür, dass sie nicht da war!“
„Der naheliegendste ist aber doch, dass ich sie nicht gefragt hab. Helena, was mischst du dich überhaupt ein.“
„Adrian, keiner weiß, worauf du hinaus willst. Wie sollen wir die Sache einschätzen? Du bürdest uns allen etwas damit auf. Wir wissen nicht Bescheid, wie sollen wir uns verhalten?“
Er runzelte die Stirn. Zwei Dinge sah Helena an ihm: Die Verwirrung eines Jungen, der nicht nachdachte und die markanten, geschliffenen Züge seines Vaters.
„Ihr sollt euch verhalten wie ihr seid? Was soll die Frage? Lebt euer Leben und lasst mir meines. Das hat nichts mit dem Geschäft zu tun.“
„Gwennis tut mir leid. Und Betty tut mir leid. Und irgendwie werde ich hier zwischen die Stühle gedrängt glaub ich und steh mitten in einer Sache, mit der ich nichts zu schaffen hab.“
Adrian hüllte den Raum in Schweigen, indem er einige Herzschläge lang nicht die Mühe unternahm, ihr zu antworten.
„Du meinst, Betty glaubt du bist gegen sie, weil du nicht gegen Gwennis bist?“
„Ich weiß es nicht. Sie ist manchmal ziemlich radikal, oder?“
„Elizabeth will nicht, dass ich sie ein kleines Mädchen nenne. Solange ich diesen Wunsch respektieren muss, streichen wir sie besser vom Plan unserer Themen.“
„Warum bist du so hart zu ihr?“
„Helena!“ Er klang mahnend und sie besaß die Stirn, diesem Tonfall entgegenzuschmunzeln wie das freche Kind der Mangel, in das die Eltern es zu nehmen gedachten. „Elizabeth wurde mit offenen Armen empfangen. Wir haben ihr mehrfach gesagt, dass sie hier willkommen ist. Wenn sie dennoch tut als wäre sie einsam und verlassen, ist das mehr als nur ein Grund, ihr nicht nachzulaufen. Sie schlägt aus, was wir ihr bieten. Dann will sie es offenbar nicht. Du in deiner weichen Kleinmädchenmanier musst es wieder auf die harte Tour lernen. Das haben wir jetzt schon ein paar Mal durch, oder?“
„Es ist wirklich außerordentlich kindisch von mir, dass ich mir über die Mitmenschen den Kopf zerbreche anstelle einfach das zu tun, was mir gefällt.“
Er war plötzlich, kaum da sie geendet hatte, in den Stand gefahren und hatte einen ärgerlichen Schritt vom Stuhl weg gemacht. Die bedrohliche Dynamik, die durch Adrians Bewegung peitschte, ließ Helena wirr den Rücken gegen ihre Lehne gedrückt halten, indem sie seinen kurzen, schwungvollen Gang beobachtete. Er ging hin und her und wieder hin.
„Ich hab andere Sachen, über die ich mir den Kopf zerbrechen muss!“, fuhr er sie an.
Dann verharrte er, als sei er selbst erschrocken darüber, wie laut seine Stimme geworden war. Sie sah es an seinem Gesicht, den schmalen Augen, die blickten, als hätten sie etwas gehört, das sie nicht kannten. Sie selbst kannte es auch nicht. Adrian war kein Mensch, der schrie. Nie. Er gehörte, wie viele ihrer Verwandten, zu der Sorte, die gefährlicher wurden, je leiser sie waren.
„In Ordnung, Adrian. Was ist los.“
„Kümmer dich“ - Er war wieder gefasst. Bis zum Anschlag gespannt wie eine Bogensehne deutete sein Zeigefinger auf Helenas Gesicht - „ums Geschäft. Ich kümmere mich um meines.“
„Adrian, was ist denn-.....los?“ Murmelig und befremdet ließ er Helena zurück, als er aus dem Wohnzimmer stürzte und die Leichtigkeit, die er so glaubhaft vorgegeben hatte, die nur von seinen schwarzrotvioletten Augenringen enttarnt worden war, sich mittlerweile nur noch anfühlte wie ein schlechtes Kostüm, das vom geringsten Windhauch zerrissen worden war.
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