Das Schwert lag weniger gut in der Hand, als sie dachte. Es war nicht ausbalanciert, passte einfach nicht so perfekt zu ihr wie die Zwille, die sie achtlos in die kleine Einstiegsluke ihres Lagers gepfeffert hatte, als sie das Schwert aus dem Waffenständer nahm. Das Leben war eben eine einzige Enttäuschung. Und mit jedem Hieb, der eine kleine Furche in den Holzpflock trieb, drängten sich diese Enttäuschungen in ihr Bewusstsein als würden die dazugehörigen Norn direkt neben ihr stehen.
Da war ihre Mutter, die einfach gegangen war. Sie war gegangen und gestorben ohne überhaupt zu fragen, ob sie durfte. Da war ihr Vater, den sie so lange nicht mehr gesehen hatte und der vermutlich anderen Norn half, anstatt hier an ihrer Seite zu sein. Wieder schlug sie auf den Pflock, sodass ihr Arm durch den Schlag zu schmerzen begann. Die Schmiedin. Sie hatte ihr dieses Schwert und das Andere - das Richtige - gemacht und sie, Iida, hatte es noch nicht einmal probiert. Sie hatte auf ihrem Willen beharrt und jedesmal wenn sie sich unterhielten sah sie diese unterschwellige Enttäuschung. Die Wolfsmutter, die ihr immer eine gute Ziehmutter gewesen war und die sie so gerne mit zur Jagd genommen hatte. Doch kein einziges Mal war Iida mitgegangen. Aus Angst, aus Panik, aus...sie wusste es nicht. Ein Frustschrei drang aus ihrer Kehle, die vom vielen Weinen brannte wie ihre Augen und der Schwertarm. Der Legendenkoch, der sie immer so väterlich ansah, bei dem sie aber irgendwie immer den Eindruck hatte, dass sie schlecht geraten war. Sie war verklemmt und lästig, nervig und feige. Und meistens einfach viel zu laut. Der Schmuckschmied. Rastwirt. Feignorn. Er hatte recht. Er sah genau das, was die Anderen nicht sahen. Sie war der größte Feignorn den es gab. Geschichten konnte sie erzählen, die zu grandiosen Übertreibungen neigten. Aber das half dem ganzen Desaster überhaupt nicht. Iida die Feignorn. Das würde eines Tages ihre Legende sein. Die Norn, die vor allem davon rennt. Sie ließ das einfache Übungsschwert in den Schnee fallen und griff mit beiden Händen nach der Axt, die sie aus dem Schuppen geholt hatte. Zornig knurrte sie auf und hob die Axt nach oben, ehe sie diese mit voller Wucht auf die Seiten des Holzklotzes schlug. Dabei schrie sie und wütete, als wollte sie aus dem Klotz Kleinholz machen. Kerben schlug sie hinein und traf den Klotz meist nur so, dass die Axt abrutschte, während in ihrem Kopf immernoch ihr Vorwurf nachhallte, den sie Varg beim Streit an den Kopf geworfen hatte.
Schluchzend sank sie zu Boden, die Axt fiel ihr aus den Händen und sie presste die Handballen auf ihre Augen. Die Arme und Beine schmerzten, ihr Hals brannte trocken vom vielen heulen. Ein Häufchen Elend, das vor der Hütte im Schnee saß und einen nassen Hintern bekam. Als sie sich die Augen rieb, atmete sie das erste Mal tief und zitternd durch. Noch immer konnte sie keinen einzigen klaren Gedanken fassen, was sie so wütend machte, dass sie gegen den Holzklotz schlug und direkt im Anschluss schmerzlich aufheulte. Die Finger waren aufgeschlagen, Blut quoll heraus und kleine Holzsplitter hingen an ihrer Haut. Mit einem mürrischen Brummen steckte sie ihre blutende Faust in den Schnee und schüttelte wild den Kopf. Gesprächsfetzen schwirrten durch ihre Gedanken und wie schon zu dem Zeitpunkt, als sie von der Brauerei weggelaufen war, überlegte sie fieberhaft was eigentlich an der ganzen Sache der ausschlaggebende Punkt für ihre Überreaktion gewesen sein könnte.
Sie hasste sich ja selbst, weil sie so reagiert hatte. Weil sie ihn in solchen Augenblicken hasste und solche dummen Sprüche sie immer zweifeln ließen. Sie hasste ihre Zweifel! Sie hasste das Gefühl, dass sie ihn am liebsten umarmen und küssen würde, anstatt ihm Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Sie konnte aber einfach nicht anders. Er verletzte sie mit diesen Worten und schien das nicht einmal zu bemerken. In solchen Augenblicken hasste sie es... ihn zu lieben. Sie wusste nicht einmal ob es Liebe war! Es war so unglaublich anstrengend mit ihm zusammen zu sein! Noch vor ein paar Wintern war alles viel einfacher gewesen. Da hatten sie sich die Zähne ausgeschlagen und waren mit Fässern den Hang runter gerollt. Und heute?!
Heute waren die Themen Knutschen, Eifersucht und möglicher Sex.
Angestrengt atmete sie durch und rieb sich die geschwollenen Augen. Der Blick war noch immer getrübt, doch schaute sie nach gefühlten Stunden endlich mal auf, auf das Werk das sie dem armen Holzklotz angetan hatte. Sicher würde sie da einen Neuen herschaffen müssen. Iida seufzte.
Wenn du einen findest, der dich völlig verrückt macht - im Guten wie im Schlechten - und trotzdem immer zu dir hält, selbst wenn du ihn genauso verrückt machtst...halt ihn fest, Iida.
Das hatte die Brauerin gesagt. Das wusste sie noch. Und trotzdem war sie so ausgetickt, hatte ihm etwas vorgeworfen, was vielleicht gar nicht stimmte. Was war, wenn er es denn nun wirklich tat?! Was, wenn er nicht auf sie warten würde, sondern zur Olga rennen nur weil die schon Fellerfahrung hatte?! Oder zu einer Anderen! Und was, wenn die Sachen, die die anderen dummen Hühner erzählten wirklich stimmten? Würde sich etwas an ihren Zweifeln ändern, wenn sie nachgab und es endlich hinter sich bringen würde?
Eine kleine Hand legte sich auf ihr Bein und die fragende Stimme des kleinen Jungen drang nur rauschend an ihre Ohren. Es war so ein Druck darauf, dass sie hätte schreien können. So rieb sie sich die Augen, schaute dann hinunter in das vom Schlaf gezeichnete Gesicht ihres Bruders. Er sollte sie nicht weinen sehen. So verkniff sie sich ein erneutes aufschluchzen direkt und zog den Kleinen auf ihren Schoß. Direkt umarmte ihr Bruder sie, was sie erwiederte. Da war nicht die Frage, wie er zu so einer Nachtzeit aus der Hütte gekommen war. Da war auch nicht die Frage, wie er krabbelnd zu ihr gekommen war, ohne dass sein gesamter Kopf mit Schnee voll war. Sie hielt ihn einfach nur fest und die kleinen Finger griffen wie üblich nach einem ihrer zerzausten Zöpfe.
"Iida reintommen...?"
Mit einem resignierenden Seufzen nickte sie und stand vorsichtig auf. Die Axt zerrte sie in den Schuppen hinein und nahm das Schwert mit in die Hütte, als sie zusammen mit dem Bruder auf dem Arm hinein ging. Sie wusste jetzt noch nicht, was sie zu tun hatte. Oder was sie tun würde. Sie wusste nur, dass diese Pubertät einfach nur scheiße war. Und sie hoffte inständig, dass es rasch besser werden würde.