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"Du hast dein Rudel verraten! TJORE! Schau mich an!" Sie war es, die den Blick von ihm nehmen musste, als ihr der Schamane mit seiner Klinge immer weiter nachrückte. Unerbittlich schlugen sie mit ihren Klingen aufeinander ein und er, Tjore, stand neben seinen Brüdern und tat nichts. Selbst an seiner Klinge klebte noch das Blut der Wolfsbrüder und Schwestern, denen er in den Rücken gefallen war. Ja, Tjore wusste, dass Raija mit ihren Worten Recht hatte. Und es war ihm egal. Dieses wertlose Weib hatte lange genug mit ihm gespielt und heute würde sie dafür bezahlen.
Ein kleiner Blizzard bildete sich bereits um den Schamanen und seine Tochter, die sich nach wie vor mit ihrem Schwert verteidigte und fast jeden Hieb ihres Erzeugers parierte. Doch die bittere Kälte und die schweren Verluste zehrten an ihren Kräften, das konnte Tjore an ihrem Gesichtsausdruck erkennen. Es wäre ein Wunder, wenn sie diejenige sein könnte, die den finalen Schlag ausüben würde. "TJORE, um der Geister Willen...Hilf mir!" Dumpf klang ihre Stimme an sein Ohr. Er liebte sie noch immer. Selbst nach so vielen Jahren, in denen sie ihn abgewiesen hatte. Nach so vielen Jahren, in denen er so viele Kerle hatte aus ihren Fellen kriechen sehen. Nie war er es gewesen. Sie hatte ihn dorthin getrieben. Sie war schuld! So ließ er seine Axt fallen, die scheppernd auf den Boden schlug. Der Laut ließ die Kriegerin unachtsam werden und der Schrei, der sich von ihren Lippen löste, brannte sich in Tjores Ohren um nur kurz darauf eine vielsagende friedliche Stille in selbigen auszubreiten. Es war ihm, als wären ihre letzten Herzschläge auch die Seinen und dennoch schmerzte ihn ihr Tod nicht so sehr, wie er es sich ausgemalt hatte. Als sich die ersten Blutstropfen von ihren Armen lösten und auf den vereisten Boden fielen, da sah er ein letztes Mal in ihr Gesicht und musste mit Entsetzen feststellen, dass sie ihn ansah wie sie es sooft getan hatte. Nie ausgesprochene Worte hingen zwischen den Beiden alten Freunden. Ich liebe dich.
Ihr Körper ruckte nach vorn, als die Klinge Rippen brach und sich durch das Fleisch zurück zog. Sie fiel zur Seite um und rasch bildete sich eine Lache aus ihrem eigenen Blut, in welchem sie lag und leerem Blick geradeaus starrte. Der Schamane lachte keifend auf, bückte sich und packte nach den langen braunen Zöpfen, an denen er riss und den leblosen Leib seiner Tochter mit zerrte. Tjore konnte nicht mehr, als reglos stehen zu bleiben und den verschmierten Blutfleck anzustarren. Die Worte des Gesegneten hörte er nicht mehr. Viel zu sehr hing ihm der letzte Ausdruck in ihren Augen im Gedächtnis, wie auch die Worte, die ihre Lippen geformt hatten, ehe ihr Herz aufgehört hatte zu schlagen. Er musste es sich eingebildet haben. Es konnte nicht wahr sein! Doch so richtig wollte er es nicht glauben. Sooft hatte sie ihn mit genau diesem Blick angesehen. Nicht wie sonst, wenn sie einfach nur aussah wie eine stolze Kriegerin, mit vorgerecktem Kinn und den ernsten grünen Augen. Es konnte ihm doch nicht all die Jahre entgangen sein, dass da mehr zwischen ihnen war. Zorn flammte in seiner Brust auf, sprudelte aus seinem Mund und ließ seine Beine taub werden, sodass sie unter seinem Gewicht nachgaben. Mit einem Aufschrei, der all den Frust und den Zorn beinhaltete schlug er seine Fäuste auf den Boden und wischte die Hand beiseite, die nach seiner Schulter griff.
SIE hatte ihn verraten! SIE hatte ihn dorthin getrieben, wo er war. SIE war schuld, dass er seinen Schildbrüdern und Schwestern in den Rücken gefallen war. SIE hatte ihn betrogen. SIE hatte den Tod verdient! SIE ... hatte ihn geliebt...?
"Fafnir, Sohn!" Der Ruf des Schamanen riss ihn aus den Gedanken, als sie gerade abzudriften wagten. Noch immer hämmerte sein Herz in der Brust, vor Zorn und Schmerz, vor Enttäuschung und Aufregung. Tief atmete er durch, zog die Finger über den vereisten blutbefleckten Boden und mehr schon schwerfällig erhob er sich. So stand er zwischen denen, die er einst Freunde und Familie genannt hatte. Die Norn, die nichts mehr waren, außer tote Geisterlecker. Er hob das Kinn, straffte sich und zog seine Axt mit hinauf, ehe er sich dem Schamanen zuwandte.
"Nídhôggr. Schamane des einzig wahren Tiergeistes, der uns aus dem Leben der Schwäche und Abhängigkeit holt und uns zu wahrer Stärke führt." Knapp neigte Tjore den Kopf vor dem Älteren, teilweise ergrauten Norn. Dieser sah mit grausamer Genugtuung auf seinen sogenannten Sohn und hinter dem schwarzgrauen Bart hoben sich die Mundwinkel zu einem grässlich verzerrten Grinsen.
"Geh nach Hoelbrak. Du wirst dort in der Senke leben und in meinem Namen agieren. Du wirst dafür sorgen, dass meine Enkelin ihrer Mutter ins Eis folgt. Du wirst dem Drachen dienen und er wird dir geben, was du dir erhoffst. Deine Zweifel werden ausgemerzt und du wirst dich dem Drachen dankbar zeigen!" Abermals grinste der Schamane und es jagte Tjore einen Schauer über den Rücken. Doch er straffte sich, griff fester um seine Axt und hob diese etwas an, um zu bedeuten, dass er die Aufgabe verstanden hatte.
"Ich werde sie finden und herbringen. Die Tochter von Raija der Kriegerin wird ihren Tod hier oben finden. Ehre dem Drachen!"
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