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Sie erinnerte sich an alles.
Ihre Kindheit war erfüllt von Gelächter, es war eine schöne Zeit welcher sie in keinem Moment nachtrauerte. Denn selbst wenn es so manch bittere Erfahrung gab, die weiten Felder und Wiesen in Gendarran waren doch einfach nur herrlich anzusehen. Die Luft war erfüllt von Wärme und dem Sirren so einiger Insekten, während sie umgeben war von ihrer Familie. Ein Einzelkind war sie nicht, sie hatte noch eine ältere Schwester gehabt und gemeinsam half man den Eltern bei ihrer Arbeit. Um was für eine Arbeit es sich auch immer dabei handelte. Schon immer war sie tatkräftig gewesen, stur obendrein und das sollte sich für sehr lange Zeit auch nicht ändern. Neugierig wie alle Kinder, aufmüpfig wie viele und so selbstbewusst, selbst älteren Leuten gegenüber, wie kaum jemand anderes in ihrem zarten Alter. Nicht selten stieß dies auf Ablehnung und provozierte den Gegenüber, aber daraus zog sie nur neue Lehren. Deswegen hörte sie auch nicht damit auf.
Das Lachen wurde von grübelnden Gedanken ersetzt, die weiten Felder von unebenen und engen Gängen in einem abwegigen Dorf oder aber einer Gemeinde. Es passierte abrupt, entführt wohl oder einfach verkauft. Eine neue Familie hatte sie nun und auch einen Vormund, einen späteren Arbeitgeber. Einen Vorgesetzten. Die Jugend schoss regelrecht vorbei, genauso wie die vielen unbekannten Gesichter und Namen die sie nie wieder in ihrem Leben sehen sollte. Nur eines blieb ihr damals schon hängen und sollte sie lange begleiten. Dieser verdammte Mesmer, Cornerstone. Er sollte eine von vielen Lügen werden, die sie hören durfte und auch erzählen musste. Zu ihrem Schutze und aller anderen, die sie ausbildeten. Diebe, Fälscher und Feldscher. Piraten. Einige Jahre auf dem Meer und nur wenige Wochen auf dem Land. Sie brauchte lange um sich daran zu gewöhnen, bis sie schließlich nicht anders konnte. Sie brauchte das Gefühl der Herausforderung, der unbekannten Umgebung - der Ungewissheit. Etwas, woran sie sich anpassen musste um zu überleben. Morde geschahen, Diebstähle. Und immerzu folgte ihr diese Lüge, um auf sie aufzupassen.
Dann wurde sie eines Tages losgeschickt, fortgejagt hatte sie sich gefühlt und dennoch wusste sie, dass es sein musste. Sie sollte anderorts warten auf neue Aufgaben. Man würde sie finden - auch das wusste sie, obwohl es nie über die Lippen ihres Vorgesetzten kam. Als junge Erwachsene kam sie nach Löwenstein, nach Wochen der Seefahrt und es sollte ihre Heimat werden. Die Völker die sie anderorts besser kennen gelernt hatte als andere, ehrlicher vor allem, traf sie nun in dieser neutralen Hafenstadt und musste sich erneut beweisen. So nah dem Ort ihrer Kindheit und doch so weit entfernt. Es war kein Platz mehr für sie und somit blieb sie im zwielichtigen Antlitz jener verruchten Stadt. Das leise Flüstern des Mesmers, welchen sie schon so lange kannte und immer noch ein Rätsel war, führte sie über Tage und Wochen dorthin wohin sie musste, um sich zu versorgen und Arbeit zu finden. Auch fand sie ihre Schwester wieder, schloss neue Bande mit ihr und fand so zu alten Spuren ihrer Vergangenheit zurück. Soweit ging es gut, bis zu jenem Moment an welchem sie während einer Auktion auf einem Schwarzmarkt einen Mann traf, der ihre Interessen teilte. Ein Zaishen war er und er sollte sie nie wieder loslassen.
Ihre Ausbildung zum Feldscher und sein horrendes Wissen über die Alchemie brachten die beiden zusammen, ließen sie erst Stunden und dann auch Nächte miteinander verbringen, um Informationen und auch Nähe auszutauschen. Er war ein gefährlicher Mann, ein introvertierter Wahnsinniger welcher sich selbst erfolgreich vor der Welt verschlossen hatte. Sie konnte nur raten wieso und war gleichermaßen froh, dass es überhaupt so war. In der Zeit in welcher sie bei ihm war spürte sie gängig den Blick des Mesmers auf sich ruhen. Er war vorsichtig und das beunruhigte sie nicht wenig.
So strichen die Jahre dahin und die lose Verbundenheit mit diesem Ausbilder, diesem Zaishen forderte irgendwann eine Entscheidung von ihr. Sie gebar und ihr war bewusst, dass er es nicht wollte. Nie hätte sie vermutet, dass er morden würde um diesen Standpunkt klar zu machen und einmal mehr war sie froh darüber, dass man auf sie aufpasste. Der erste Sohn wurde blindlings in die Arme einer Fremden gegeben, der zweite in die Obhut ihrer Schwester abgetreten, damit sie fliehen konnte. Sie floh vor dem Mann mit welchem sie fast zehn Jahre zusammen verbrachte und als sie zurück kam, hatte sich so viel verändert - nur er nicht.
Er war entstellt und verkrüppelt vom Kampf gegen die untoten Armeen zurück gekehrt, doch schränkte ihn das nicht ein. Es machte ihn nicht verbittert, er war sogar nur sturer und aggressiver geworden, forderte sich und von allen anderen mehr ab denn je. Sie konnte nur zusehen, wie er sich damit einfach alles zu verbauen begann und dennoch konnte sie nicht anders, als bei ihm bleiben. Wieder waren es die Interessen die sie zusammen führten und auch die ewigen Streitereien bezüglich seines Glaubens, seiner Richtlinien und Werte die er für wichtig ansah sorgten nicht dafür, dass die Bande noch einmal brechen sollten.
Dann fing es an mit seiner Umgebung, die ihn wohl wieder realisierte und darunter gerade zwei Priester des Balthasar wenn auch mit einem riesigen Abstand dazwischen. Zuerst war da Dronon, sein ehemaliger Rekrut und auch wenn sich die beiden immer wieder zu beißen begannen, sie waren sich unglaublich ähnlich. Vermutlich war dies der Grund weshalb sie sich bis zuletzt weder verstehen, noch gegenseitig in Ruhe lassen konnten. Dieser tumbe Kerl hat seinen ehemaligen Ausbilder oft genug Steine in den Weg gelegt, dann doch wieder geholfen und letzthin zurück in den Krieg geführt, von welchem der Zaishen geistig weitaus entstellter zurück kehren sollte, als er es körperlich jemals hätte hinbekommen können.
Dann war da noch Marktur. Ein Priester welchen sie zuerst kennen lernen durfte und mit welchem sie auf Anhieb sympathisierte. Allgemein fand er nur Anklang, half und unterstützte, fand Lösungen und Wege die alle anderen übergangen oder schlicht nicht realisierten. Er war ein gewiefter Mann, besaß einen scharfen Verstand und plante Schritte voraus die selbst am Horizont noch nicht erkennbar waren. Mit allen kam er zurecht, nur nicht mit dem Zaishen. Irgendetwas kreuzte sich bei ihnen dauernd und auch wenn der Ausbilder ihm wüster werdend entgegen trat, der Priester blieb standhaft. Nur mit dem Ausgang des Kampfs gegen die Mordrem, jener Marsch auf welchem er mitgenommen wurde durch Dronon, damit hatte selbst Marktur nicht gerechnet.
Der Zaishen, der Ausbilder, der Krüppel war aggressiv geworden. Jene unterschwellige Aggressivität die schon immer in ihm pulsiert hatte, lauerte - sie war vollkommen herausgebrochen. Die ersten zwei Tage war er noch still gewesen, verschlossener und nachdenklicher als sonst. Man hatte es mit Resignation verwechselt und das war der größte Fehler von allen. Unvorbereitet traf ein Schlag nach dem anderen die unterstützenden Helfer, die sich gemeinsam nicht nur schwer taten dem Wächter Einhalt zu gebieten und Grenzen aufzuweisen, es war ein Himmelfahrtskommando ihm überhaupt näher zu kommen. Wunden wurden geschlagen, Knochen gebrochen und auch Schüsse schallten durch die Luft. Keinem Marktur war es möglich, keinem Cornerstone und auch ihr nicht. Jeder verlor mit zunehmender Zeit die Hoffnung, jeder verlor den Stand und den Boden unter den Füßen.
Zuerst war es der Mesmer welcher verkündete, dass es keinen Sinn mache und ein Totschlag die beste Lösung für alle wäre. Diesen Worten stimmten nach und nach die anderen zu, angefangen beim Dwaynapriester welcher sich freiwillig gemeldet hatte und auch Jace, ein weiterer Feldscher mit einiger Lebenserfahrung brach die Versuche ab. Danach folgten Stück für Stück die Rekruten, bis nur noch die Tochter Markturs über war und der Priester selbst. Zu dritt stand sie mit diesen beiden als letzte Wehr, während der rasende Wahnsinnige weiter einen Tobsuchtsanfall nach dem nächsten erlitt. Aber sie wollte nicht aufgeben. Sie wusste, dass ihm geholfen werden konnte und dennoch griff langsam die Realität wieder nach ihr. Sie wusste, dass ihm geholfen werden konnte und genauso wusste sie, dass diese Hilfe endgültig und notwendig war.
Die Welt war langsam geworden und mit aufgerissenen Augen starrte sie dem geisterhaften Schwert entgegen, das direkt auf sie zuhielt. Der Abend hatte die Blutstromküste in orangenes Licht getaucht und es war unangenehm still geworden. Sie hörte wie sich der Wächter einige Meter hinter ihr bereits wieder manifestierte, weswegen sie das Gewehr fester packte und sich umwandte. Lange hing ihr Blick noch an dem nahenden Todesurteil und dann zuckten ihre dunkelgrünen Augen doch noch einmal über das Schlachtfeld, das sich ihrem Sichtfeld anbot. Man war zurück gekehrt zum leicht versteckten Ausbildungslager, fernab der Stadt um sich dort um Thrymaer zu kümmern und von all denen die mitgekommen waren, blieben nur wenige bis zum Ende. Ein paar Schritt von ihr entfernt lag Cornerstone auf dem Grund und rührte sich seit gefühlten Minuten schon nicht mehr. Man hatte eine Klinge durch seinen Brustkorb geschlagen und die blutige Lache unter seinem hageren Leib war schon längst dunkel geworden, der Blick aus seinen fahlen türkisen Augen geradewegs in die Leere gerichtet. Es war seine Klinge, die des Zaishen. Jene, die er sich extra für den Kampf gegen die Mordrem hat schmieden lassen. Neben dieser Wunde zeugte der Leib von keiner einzigen weiteren Verletzung, es war ein präziser Streich der dem Mesmer Einhalt gebot. Ihr Blick folgte einigen Kampfspuren hinüber zur Tochter des Priesters, die ebenso auf dem Boden lag. Auch wie war eine Wächterin und trotz ihres Ehrgeizes war sie keine Herausforderung für den tobenden Mann. Leicht zuckend lag sie rücklings auf den Grund, hatte die Augen geschlossen und die Hand fest um ihre eigene Kehle geschlossen. Seitlich aus ihrem Hals ragte ein Dolchgriff heraus den Chester genauso gut kannte. Eine Stiefelklinge. Ein jene mit der Thrymaer nach dem Angriff auf Löwenstein das Leben von Eichwald beendet hatte. Er hatte nie davon erzählt. Nicht was ihm durch den Kopf ging und auch nicht seine Gedanken dazu. Den Dolch hatte er ihr gezeigt, die Tatsache verkündet und das Thema damit für immer abgeschlossen.
Zuletzt festigte sich ihr Augenmerk auf den Rücken jener Person, die dieses Chaos überhaupt angerichtet hatte, die Distanz zu ihm knappe zwanzig Meter. Der Leib des einst so hageren Mannes war von seiner Rüstung gepanzert, wenn auch nicht so fest wie bei einem eigentlichen Frontsoldaten, auch wenn ihn dies nie davon abgehalten hatte in erster Reihe zu stehen wenn es gegen den Feind ging. Trotz seiner körperlichen Einschränkung zählte Thrymaer weiter auf seine Agilität und Geschwindigkeit, seine Erfahrung im direkten Kampf. So kam es ihm wirklich zugute, dass er sich schon während seiner eigenen Ausbildung auf die Beschwörung von Geisterwaffen fixiert hatte, denn diese sollten in seinem Lebensabend seine Rettung in vielen Momenten sein. Man hatte ihn wieder auf die Beine gebracht, teilweise sogar wortwörtlich. Für einige Tage benötigte er seine Gehstütze nicht mehr und konnte frei laufen, auch wenn das Rennen selbst eine Mühe bleiben sollte. Dieser Anflug von einem Gefühlshoch hatte ihn vermutlich wieder wahnsinnig werden lassen, aber das konnte sie nur vermuten und so wie sie sich einschätzte bezüglich des Zaishen lag sie mit dieser Annahme mal wieder falsch. Sie kannte ihn als Mann, jedoch nie als Person.
Vor ihm stand Marktur, der mit seiner breiten Klinge in die Defensive überging. Viel mehr blieb ihm aufgrund des plötzlichen nächsten Übergriffes nicht übrig, da er sich gerade seiner verletzten Tochter zugewandt hatte. Das Gesicht verzog sich zu einer angestrengten Grimasse, denn selbst wenn dieser Ausfall nur wenige Minuten andauerte, hatte er doch alles gefordert. Der Priester wollte seinen Stand wechseln, verlor dadurch aber die Balance und kippte langsam nach hinten weg, starrte dem Zaishen über sich entgegen. Ihm wurde bewusst, dass dies sein letzter Kampf sein würde und war der Anlass für Chester ihr Gewehr anzuheben. Die metallenen Spangen und der Lauf selbst reflektierten das blaue Licht hinter ihr, das immer intensiver wurde umso näher es ihr kam. Zuerst zielte sie auf Herzhöhe, in den Rücken ihres Partners und hielt die Schusswaffe so einen Atemzug lang an. 'Nein', sinnierte sie in ihrem Geist. 'Es würde nichts bringen'. Damit hob sie den Lauf ein kleines Stück weiter an und zielte somit auf seinen behelmten Hinterkopf. Wieder hielt sie inne und rief sich mehrmals zu, dass dies nicht die Lösung sein kann. Viel Zeit zu resümieren und entscheiden blieb ihr aber nicht, denn das Schwert wurde nicht langsamer und wich ihr auch nicht aus. 'Ich habe verloren', war dann ihr abschließender Gedanke.
Sie kniff die Augen nicht zusammen und dennoch wurde ihr plötzlich schwarz vor diesen, als sie schoss. Ein fieser Schmerz blieb aus. Stattdessen verlor ihr Körper innerhalb eines Sekundenbruchteiles sämtliche Haltung. Ihr Atem hörte einfach auf und obwohl ihre Lider nicht geschlossen waren, konnte sie nichts sehen. In nicht mehr greifbarer Ferne hörte sie das dumpfe Klappern von Rüstungen, als diese aufschlugen und dann spürte auch sie den harten Grund unter sich. Einige spitze Steine gruben sich in ihren Leib, stießen ihr unangenehm und ungehalten in die Schultern und die Stirn, doch blieb der Schmerz weiter aus. Sie musste sich beim Sturz die Nase gebrochen haben. Irgendwie musste sie daran denken und sah es als notwendig an, sich an diesem Fakt festzukrallen als sei er überlebenswichtig. Es erschien ihr nur logisch. So blieb sie einfach liegen und die Geräusche der Umgebung verstummten nach und nach. Erst die in der Ferne, dann die im direkten Umfeld. Das Röcheln und Keuchen einige Meter weiter, es erreichte sie zwar noch und bekümmerte sie dennoch nicht. Irgendwann war es nur noch still. Irgendwann herrschte endlich Ruhe.