Zaishen Richard von Driftmark blickte auf viele anstrengende Tage zurück. Er erhob sich zur sechsten Morgenstunde nach nur fünf Stunden unruhigem Schlaf, ordnete seine Frisur, trimmte seinen Bart, wusch und rüstete sich, frühstückte allein an einer leeren Tafel im Gemeinschaftssaal der Diener Balthasars. Milch, Brot und etwas Wurst. Er hatte keinen großen Appetit. Das kollektive Morgengebet zur siebten Stunde würde er ebenso verpassen wie später das gemeinsame Morgenmahl der Priester und Novizen, der Hand voll anderen Zaishen hier sowie aller sonstigen Bewohner und Gäste der Schreinquartiere. Tag ein, Tag aus, seit nunmehr fast zwei Wochen. Seine Schicht begann um halb.
Auf den kargen Gängen, im spärlichen Licht schießschartenartiger Fenster und prasselnder Fackeln, kamen ihm dennoch schon bekannte Gesichter entgegen. Unter der Fuchtel der Kleriker Balthasars gab es wenig Platz für faule Langschläfer. Und so tauschte man im Vorüberziehen die obligatorischen Salute, mal mehr und mal weniger stramm, flüchtige Grußesformeln und Blicke dazu - Blicke die nicht viel zu sagen hatten und doch alles sagten. Sie wussten es, oder vermuteten es, zumindest manche von ihnen. Sie waren keine Idioten, konnten ahnen, wohin Driftmark ging. Und warum er dorthin ging. Ein Grund mehr für ihn, den richtigen Leuten in diesen Gewölben weiterhin aus dem Weg zu gehen. Er konnte nur hoffen, dass all das bald ein Ende finden würde.
Es waren Zeiten wie diese, in denen seine genügsame Loyalität auf eine harte Probe gestellt wurde. In denen er seinen eigenen Mangel an Ambition verfluchte. Als vierter Sohn aus noblem Hause von stolzem canthanischen Blut hatte er nie Aussichten auf ein Erbe genossen. Die Driftmarks lobten sich das Militär, im Zeichen ihres göttlichen Patrons. Nachdem seine drei älteren Brüder und seine geliebte Schwester bereits über die krytanischen Streitkräfte verteilt werden sollten, hatte man den jungen Richard als Tribut an den Gott versprochen, lange bevor sein jüngerer Bruder Riley auf die Welt kam. Priester hatte er werden sollen, wie die jüngsten Söhne des Hauses bereits im Echowald Redemptoristen wurden.
Aber dazu hatte ihm das Zeug gefehlt. Er war ein Macher, kein Redner. Immer gewesen. Und so war er in den Zaishen-Orden gekommen, um zu lernen, die Schwertkunst seiner Geschwister noch zu übertreffen. Er war immer zufrieden damit gewesen. Stolz auf seinen traditionsreichen Orden, auf seine heiligen Pflichten.. auf die Kämpfe. Nichts liebte Richard Driftmark mehr als das Adrenalin. Nichteinmal die schönen Frauen.
Zwei Jahre zuvor hatte er gedacht, dass es nie schlimmer kommen würde als Löwenstein. Die blühende Stadt am Meer, in der er so viele Jahre der Ausbildung genossen hatte - verwüstet und unter Angriff. Die Zaishen dezimiert. Viele seiner Freunde hatten ihr Leben gelassen. Und während sogar zwei frische Anwärter mit für die Hilfstruppen einzogen wurden, hatte man ihn beordert in Götterfels zu bleiben, um den Schrein zu bewachen. Nie im Leben hatte er sich nutzloser gefühlt. Insgeheim fragte er sich noch heute, ob sein Vater damals auf Dronon eingewirkt hatte, im Angesicht sicherer Verluste. Offen nachgefragt hatte er nie, bei keinem von beiden.
Doch heute wusste er, dass er sich geirrt hatte. Selbst das jüngste Ultimatium seines Vaters verblasste im Schatten der Last, die er nun auf seinen Schultern trug. Richard Driftmark konnte stundenlang kämpfen und trainieren, ohne je müde zu werden. Er lebte für den Anreiz, den Kampfesmut. Doch er war es müde, mit kaum Jemandem sprechen zu können, obwohl jeder Zweite ihn mit Fragen bedrängte. Er war es müde, Tag um Tag doppelte Schichten zu stehen. Draußen vor der Schreinpforte - und innen, in Priesterin Variks Gemach. Dorthin war er soeben unterwegs.
Als er schließlich eintrat und die Tür hinter sich zuzog, war die Priesterin nicht zugegen. Vermutlich kümmerte sie sich nebenan um ihre Söhne, auch wenn Nichts zu hören war. Er löste den Akolythen Wutton ab, welcher mit tiefen Augenringen aus der Nachtschicht hervor ging, um sich gen Innenhof aufzumachen. Nach dem Morgengebet würde der Bursche sich gewiss schlafen legen. Sie tauschten den Salut nur leise und sprachen Nichts, bevor beide weiter ihren Pflichten nachgingen.
Driftmark rückte sich einen Stuhl zurecht, nahm Platz und griff sich seinen Groschenroman vom Schreibtisch. Er hatte ihn schon die letzten Tage über schlicht hier liegen lassen, in stillem Tribut an die zehrende Leere, die auch während der Schichten seiner Kameraden nicht besser werden konnte. 'Der Ruf des Wintermondes', ein furchtbar klischeehaft geschriebenes Abenteuer über einen barbarischen Helden namens Crogan, der sich gegen die Tyrannei eines bösen Götzen erhob.
Somit war es also wieder an dem Zaishen, über die halb leergeräumte Kammer zu wachen und irgendwie die Zeit totzuschlagen. Er ließ seinen Blick kurz schweifen, um sicher zu gehen, dass alles noch dort war, wo es sein sollte. Viel stand nicht mehr im Raum außer Bücherregalen und dem Tisch. Die kompletten Kindersachen hatte die Priesterin eilends nach nebenan räumen lassen, und seitdem hatte sie kaum mehr einen Gedanken an ihre sonst so geliebte Ordnung verschwendet. Richard konnte es ihr nich verübeln.
Und das Bett war natürlich noch da, samt Nachttisch und der Ursache für all das Aufhebens. Die gewaltige Ruine eines Mannes, zu Fall gebracht und darnieder liegend, reglos in ihrer ultimativen Ruhe. Die dicken Filzlocken rahmten ein unverkennbar grimmiges Antlitz ein. Selbst jetzt wirkte es streng und zornig, obwohl es viel zu blass war, um noch lebendig genannt zu werden. Viele Bahnen weißen Stoffes waren ihm um den abnormen Brustkorb geschlungen wie ein Harnisch. Gerüstet für die letzte Ehrung. Präsentierbar für das Leichenbett. Ganz so sah es aus.
Bis sich ein weiteres Paar Augen öffnete, um den Morgen zu begrüßen.