Es war spät geworden im Maidenwispern nach ihrem Kurzbesuch in Ebonfalke. Die Gäste waren guter Stimmung, das Bier floss reichlich und sorgte so dafür, dass die Nacht sich immer weiter vom Sonnenuntergang entfernte und mit großen Schritten auf deren Aufgang zu hielt. Es wäre um ein Vielfaches bequemer für sie gewesen, einfach die Treppen zu ihrer kleinen Kammer hinauf zu nehmen und gleich im Wirtshaus in die Kissen zu stürzen, doch dem Schloss hier traute sie nicht mehr, seit Trixie es überwunden hatte und gerade nach dem Vorfall mit Magnus benötigte sie eine sichere Türe zwischen sich und allen, die sie davor zurück ließ.
Auf dem großen Vorplatz vor der Schankstube blickte sie sich um, nicht beiläufig, sondern so gründlich es die Nacht und deren Dunkelheit zuließen. Für eine erneute Überraschung fehlte ihr heute die Waffe. Sie huschte nicht von Schatten zu Schatten, denn wer wusste schon, was darin lauern mochte, sondern hielt sich in den Lichtkegeln der wenigen Straßenlampen, die ihren Weg bis ins Salma-Viertel und dessen Marktplatz säumten. Zügig legte sie die Entfernung zurück, jedoch ohne wirklich zu rennen. Es war genug Zeit, ihren Gedanken Raum zu lassen, in denen fliederfarbene Gesprächsfetzen kreisten, fuchsrote Satzfragmente wirbelten. „Ich bin wir.“, lautete eines davon. „Verliebst du dich in mich?“, ein zweites. „Wer sind wir, Alice?“ Sie grub die Fäuste tiefer in die Hosentaschen und unterdrückte das Bedürfnis nach einem Stein zu treten, allein aus dem Grund, dass sie keinen fand, bei dem es sich gelohnt hätte.
Unbeschadet an ihrer Türe angekommen, zückte sie den Schlüssel und sperrte auf. Kaum war die Türe wieder ins Schloss gefallen und sperrte so das wenige Mondlicht von draußen aus, trugen sie ihre Schritte sicher zum Küchentisch hin, auf dem eine Packung mit Zündhölzern darauf wartete, dass sie mit ihnen die Öllampe entzündete, die daneben stand. Das erste von ihnen zischte, ließ sie einen Blick auf den heute Morgen aufgestellten Strauß mit dunklem Flieder erhaschen, bevor sich ein scharfer Schmerz durch ihren Hinterkopf fraß, und alles wieder schwarz wurde.
Magnus trat das zu Boden gefallene Hölzchen aus, dessen Flamme sich geweigert hatte, schon bei dem Sturz zu sterben. Stattdessen zog er seine eigene Schachtel hervor und entflammte die Öllampe. Wo sie stand, wusste er. Er hatte genug Zeit in diesem Haus verbracht, um sich vieles davon einzuprägen. Neu war nur die zusammengebrochene Frau zu seinen Füßen, der er einen kurzen Blick schenkte und sich schließlich hinab beugte, um das erloschene Streichholz aufzuheben und verschwinden zu lassen. Dann ging es für ihn in aller Seelenruhe nach oben, um die vorbereitete Tasche mit Alice' Kleidern zu greifen. Behandschuhte Finger strichen ihre Laken noch einmal glatt, so wie er sie vorgefunden hatte, bevor er unten noch einmal vor Alice in die Knie ging. Sie rührte sich stöhnend ohne jedoch zu erwachen und er strich ihr eine Locke aus der Stirn. Der Schlag war nicht allzu fest gewesen, hatte keine Wunde hinterlassen, brachte deshalb aber auch nicht ausreichend tiefe Bewusstlosigkeit mit sich. Mit einer Ruhe, die nur ausreichende Routine schaffen konnte, griff Magnus in seine eigene Tasche, zog ein flaches, braunes Ledermäppchen hervor und öffnete es. Bevor er ihm die vorbereitete Spritze entnahm, schob er den Ärmel ihres Oberteils nach oben und band den Arm ab. Die Lampe holte er sich für mehr Licht näher heran, prüfte noch einmal gewissenhaft den Inhalt der Spritze und das Fehlen von Luftbläschen und stach sie dann durch Alice' Haut.
Als das erledigt war, verstaute er sorgfältig Beweisstück für Beweisstück, lud sich die Bewusstlose auf den Arm und löschte die Kerze. Die Türe fiel hinter ihm ins Schloss und alsbald lag das Viertel wieder in trügerischer Ruhe und in Frieden da.
Kommentare 2