Alice' Erwachen war keines, das sie schlagartig in die Senkrechte beförderte. So plötzlich ihre Bewusstlosigkeit, so schleichend wollte sie nur weichen, hielt sich schwer und träge in ihrem pochenden Kopf und zwang sie immer wieder nieder, bis der Verstand sich so weit klärte ihr sagen zu können, dass sie sich an einem ihr unbekannten Ort befand. Dazu musste sie nicht einmal die Augen öffnen. Es roch falsch, nach frischer Farbe und anderen Dingen, die sie nicht heraus filtern konnte. Die Wolldecke, die ihr bis zum Kinn reichte, war nicht die ihre, denn sie kratzte ein wenig und auch ihre Bettstatt war zu hart um ihren Ansprüchen zu genügen. Mit der Sammlung dieser Erkenntnisse kam auch eine weitere, die ihren bisher noch immer gleichmäßigen Atem aus dem Takt brachte und der zweiten Person im Raum, deren Präsenz Alice an eigenen Atemgeräuschen wahrgenommen hatte, verriet, dass sie im Begriff war zu erwachen. Holz, vielleicht ein Stuhl knarzte und leichte Schritte ließen sie darauf hoffen, dass es eine Frau war, die sich nun zu ihr auf die Liege setzte. Die Fingerkuppen, die ihr eine Locke aus der Stirn strichen, waren rau genug, um von beiden Geschlechtern stammen zu können, doch die Stimme, die war eindeutig weiblich. Und Alice kannte sie. „Es ist lange her, mein Schatz.“
Sie schlug die Augen auf und schaffte doch nicht den geistigen Sprung von ihrer Situation - dass sie verschleppt worden sein musste, war ihr mittlerweile klar - zu der Frau, die ihr dort warm entgegen lächelte. Ihre Mutter. „Da schau dich an. Wie hübsch du bist. Wie du dich gemacht hast. Wozu du es gebracht hast...meine Tochter.“ Alice wagte es kaum zu atmen. „Wir sind so stolz auf dich.“ Das war auf verdrehte Art und Weise falsch. Nicht, dass ihre Eltern lieblos gewesen wären, als sie ein Kind war, doch mit wachsendem Fanatismus der Sache gegenüber, wuchs auch die Gleichgültigkeit ihr Kind betreffend. Nachgetragen hatte Alice es ihnen nie, doch umso misstrauischer stimmten sie die Worte. Ihre Mutter deutete die Verständnislosigkeit in Alice' Augen richtig und erklärte: „Deine Rückkehr zu uns. Hier ist dein Platz. Endlich hast du das erkannt. Nolan war sehr zufrieden mit dir.“ Das konnte nicht sein. „Womit zufrieden?“ Ihre Mutter vertiefte das Lächeln noch und strich Alice über die Wange. „Mit den Dingen, die du ihm gesagt hast, mein Schatz. Über den Hasen. Über sie alle.“ Augenblicklich schoss Alice in die Höhe und wich bis zur Wand zurück und weg von der Frau, die sie so schamlos anlog. Dabei bemerkte sie auch zum ersten mal die Fessel, die ihren Fuß mit einer Kette am Bett hielt. „Das ist nicht wahr, ich habe nichts gesagt!“
„Doch mein Schatz, das hast du. Zugegeben, die Drogen haben ein wenig nachgeholfen, doch es ist das Ergebnis, das zählt.“ Alice fasste sich an den Kopf, dessen Pochen in den Hintergrund zu rücken begann gegen das nagende Gefühl der Angst, das sich durch ihre Adern fraß wie kaltes Eis. „Nein. Nein. Nein! Ich habe nichts gesagt! Ich würde nie etwas sagen. Wieso bin ich gefesselt, wenn ich etwas gesagt habe? Warum bin ich hier?“ Warum hatte man sie nicht gleich getötet? „Du kennst doch Magnus. Er ist immer misstrauisch. Ich sage ihm, dass du wach bist, dann wird er kommen und sich mit dir unterhalten.“ Ihre Mutter erhob sich und verließ den Raum, ohne noch einen Blick zurück zu ihrer Tochter zu werfen, der vor Elend ganz schlecht wurde. Hatte sie geredet? Aber was hätte sie schon sagen können. Sie wusste doch nichts. Nicht viel. Ein paar Namen. Hatte sie Namen verraten? Alice rieb sich die Augen, straffte sich und blickte sich in dem Raum um. Nun war ihr klar, woher der Geruch nach frischer Farbe gekommen war. Die Wände hatten einen neuen Anstrich bekommen. Sonnengelb war er. Eine makabere Farbe für eine Zelle, wie sie fand, und eine Zelle war das hier, da täuschten auch nicht Tisch, Stuhl und Bett drüber hinweg. Die Kette an ihrem Fuß nämlich erinnerte sie nur zu deutlich daran und auch die fehlenden Fenster trugen ihr übriges zu dem Bild bei.
Alice hatte ihre Inspektion des Raumes noch nicht beendet, da schwang die Türe wieder auf und Magnus trat ein, zweckmäßiger gekleidet als das letzte Mal und wieder mit leuchtend rotem Halstuch. „Rosenrot.“ Alice lehnte den Kopf gegen die Wand und blickte dem Mann wachsam entgegen, der sorgfältig die Türe wieder schloss und eine dünne Ledermappe auf dem Tisch ablegte, bevor er sich den Stuhl heran zog und sich setzte. „Ich habe nichts verraten.“, sagte Alice mit überraschend fester Stimme. „Stimmt, das hast du nicht.“, antwortete er mit einem langsamen Nicken. „Das wirst du noch, um zu vervollständigen, was ich von den anderen schon weiß. Aber das ist nicht mehr wichtig. Wichtig ist, dass sie glauben, du hättest es getan.“
„Das werden sie nicht!“, stieß Alice heftiger aus, als sie es gewollt hatte und brachte Magnus damit zum lachen. „Du glaubst ja nicht einmal selbst daran. Ich kenne dich. Ich weiß, wovor du dich fürchtest.“ Es war die Tatsache, dass er es beinahe gleichgültig aussprach, die ihr endgültig den Magen umdrehte. Dumme, schwache Alice. Fangen lassen hatte sie sich wie ein hübscher Schmetterling, der freiwillig ins Netz geflogen war. Magnus erhob sich wieder, stellte den Stuhl beiseite und nahm die Mappe wieder auf. Am Tisch lehnend sagte er: „Versuch nicht, deine Fesseln zu lösen. Deine Fähigkeiten sind bekannt, die Schlösser entsprechend angepasst. Auch die Türe. Erspare uns beiden den Zeitaufwand, dir die Ausweglosigkeit deiner Situation selbst beweisen zu müssen.“ Mit diesen Worten schlug er die Mappe auf und hatte Alice eben noch geglaubt, vor Übelkeit schier zu vergehen, erreichte diese jetzt ungeahnte Horizonte. Im Innern steckten geordnet Metallnadeln verschiedener Dicke und Länge, von der kleinsten, höchstens daumenlangen bis hin zur größten, die es auf die Länge von anderthalb Händen schaffte. Sie zuckte zusammen, als er die Mappe wieder geräuschvoll zuklappte. In seinen Augen konnte sie nichts erkennen, weder sadistische Freude an ihrer Angst, noch Bedauern oder Gleichgültigkeit. Sie waren leer. „Ich werde das nicht gerne tun, aber ich werde es tun, wenn du nicht von dir aus sprichst, Alice.“ Ohne sich von dem erstickten Geräusch beirren zu lassen, das ihr entkam, fuhr er fort: „Ich verlasse dich jetzt, gebe dir Zeit zum nachdenken über deine Möglichkeiten.“ Er war bereits an der Türe, als er nach einem kleinen Zögern, das ihn beinahe hätte menschlich wirken lassen, hinzufügte: „Du hast dort nichts mehr, denke daran. Sie werden deinen Tod wollen, Rosenrot. Und du weißt, was sie mit jenen machen, die sie für Verräter halten. Du hast dort nichts mehr.“ Und mit diesen Worten verließ er ihre Zelle.
Sie kamen alle paar Stunden und brachten ihr Wasser und eine Art Suppe. Beides verweigerte sie. Alice schätzte zumindest, dass es Stunden waren, die vergingen, denn die Sonne um sich zu orientieren hatte sie nicht. Nur diese grässlich gelben und ständig beleuchteten Wände. Der Raum mochte keine Fenster haben, aber eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Lampen sorgte für andauerndes Licht und stickig warme Luft, die Alice' ohnehin enge Kehle nur noch mehr zuschnürte. Auf dem Bett kauernd blickte sie zur Türe, wartete darauf, das Magnus zurück kehrte, um seine Drohung wahr zu machen. Doch er kam nicht. Er ließ sie allein mit ihren Gedanken, die ihr von jeder gelb gestrichenen Wand dieser Zelle entgegen schrien. Sie fand lange Zeit keine Ruhe, auch wenn ihr Körper diese forderte, womöglich weil es draußen Nacht geworden war. Sie wusste es nicht. Nach einer kurzen Überprüfung der Kette hatte sie Magnus Einschätzung recht geben müssen. Dieses Schloss würde sie so weiteres nicht knacken können und ihre Chancen, das Bett selbst zu bewegen standen ebenfalls schlecht, weil es an der Wand befestigt worden war. In ihrer Zeit des Wartens entdeckte sie in ihrer Zelle außerdem noch weitere Möglichkeiten, einen Menschen zu fixieren. Sie waren ihr im ersten Moment entgangen,weil sie sich in ihrem Rücken befunden hatten. Ein Guckloch an der Lampenwand gab es obendrein, was sie in noch ganz andere Nöte brachte, die sie irgendwann nicht mehr würde unterdrücken können.
Über den Gedanken, dass jemand sie dabei würde beobachten können und wie unangenehm das wäre, war sie wohl eingeschlafen, denn das nächste, was sie wahrnahm, war lautes Scheppern und Knallen, das sie augenblicklich hochschrecken ließ. Ein ihr unbekannter Mann stand im Zimmer und hieb lautstark zwei Topfdeckel gegeneinander, bis er sich sicher war, dass sie wach war. Erst dann verschwand er wieder durch die Türe und ließ Alice mit hämmerndem Herzen und dem Bewusstsein allein, dass das erst der Anfang gewesen war. Sie sollte recht behalten.
Tage, Wochen, Jahre oder nur bloße Stunden. Alice hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war. Immer wieder waren sie gekommen, hatten sie von ihrem Schlaf abgehalten, hatten auf ihr Toben nicht reagiert und auch nicht auf ihr Weinen. Der Durst hatte sie gezwungen, irgendwann doch das angebotene Wasser zu nehmen, doch die Erleichterung darüber, dass es keine weiteren Drogen enthielt, wich rasch dem Entsetzen, dass es anderen Nöten nur noch zusätzliches Feuer gab. Und dann war er gekommen. Er, mit seinen Nadeln und süßen Worten, scharfen Verweisen, lockenden Versprechen. Sie hätte nicht mehr sagen können, ob sie standhaft geblieben war. Ob sie nicht doch geredet hatte. Ob es ihm nicht völlig gleichgültig gewesen war. Als warme, starke Arme sie dort in ihrem eigenen Dreck umfingen glaubte sie sich in einem weiteren Traum und zuckte bereits zusammen, denn sie erwartete erneut das Scheppern von Topfdeckeln zu hören, doch es blieb aus. Es war für sie, als würde nach einem endlos langen Tag endlich die Sonne untergehen, als man sie aus ihrer ewig hellen Zelle in das herrlich willkommene Dunkel eines Ganges trug. Sie musste wirklich weggedämmert sein, denn das nächste was sie wahrnahm, war warmes Wasser, in das jemand sie setzte. Es wollte ihr nicht gelingen, ihre Augen scharf zu stellen, aber den Geruch, den kannte sie. Es war derselbe Badezusatz, den auch sie oft zu benutzen pflegte. Man wusch sie mit ihren eigenen Ölen sauber, cremte die Haut mit ihren eigenen Pflegemitteln und sie konnte nicht begreifen, wieso das geschah. Selbst das Haar bürstete und wusch man ihr, trocknete es und die nun wieder zarte Haut, bevor man ihr in einige ihrer eigenen frischen Sachen half. Dann nahmen die Arme, es waren die von Magnus, das sah sie mittlerweile, sie wieder auf und trugen sie fort aus dem Bad. In Erwartung wieder den sonnengelben Raum zu betreten, drückte sie das Gesicht enger an ihren Peiniger, der sie daraufhin vorsichtig absetzte. Ihr Geist erfasste den Unterschied nicht sofort, ihr Körper jedoch nahm ihn dankend an und sank tiefer in die weichen, sauberen Laken. Keine Fesseln hielten sie mehr und doch bewegte sie sich nicht von hier fort. Dazu wäre sie nicht mehr in der Lage gewesen. Sie spürte noch, wie Magnus' Finger ihr eine Locke aus der Stirn strichen, dann war sie auch schon in einen langen und sehr tiefen Schlaf gesunken.
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