„Warst du heute am Baum?“ ein Knabe, vielleicht acht mit strohblondem Haar und einer Unzahl an Sommersprossen starrt ein jüngeres Mädchen an, welche mit dreckig, speckigen Wangen und einer größeren Zahnlücke bemessen im Halbkreis mit ihm und anderen in einer Ecke im Armenviertel hockt. Die Nacht dämmerte bereits, der Magen war nur wenig gefüllt und zwei kleinere Mädchen klammerten sich eng an eng aneinander, damit die Kühle nicht zu sehr in die Knochen fahren würde im Schlaf. „Ja, hast mich nich' ges'hn?“ mischt sich mit schiefem Grinsen ein anderer Junge ein, im Alter wohl in der Runde als Ältester anzusehen und mit der fiesen Angewohnheit behaftet Gossisch zu sprechen, bedeutet er verschluckte gern den ein oder anderen Buchstaben oder die ein oder andere Silbe. „Sie spielt soooo schön“ ein kleines Seufzen untermalt von einem verträumten Lächeln findet sich im Gesicht des Dreckspatzes wieder „und immer eine neue Geschichte, wenn ich groß bin, will ich auch so ein Instrument spielen?“ entkommt es nun endlich der eigentlich Angesprochenen, während sie die Knie anzieht, umarmt und das Kinn darauf ablegt. Das was wohl mal ein Kleid oder ein Herrenhemd war, ist ihr viel zu groß, beschmutzt und teilweise Mottenfraß zum Opfer gefallen und notdürftig mit einem Seil um die Taille gebunden. „Kannst dir nie leist'n“ stoffelt es von der Seite zu ihr, während eine locker geführte Handfläche ihr den Hinterkopf schlägt „Un' wenn, dann kannst es nich', wer sollt's einer unbedeut'den Motte, wie dir, schon beibringen wollen.“ Ninchen zieht den Kopf ein, reibt sich diesen letztlich nach dem Schlag und wagt kaum ein weiteres Wort von sich zu bringen, nur ein kleines genuscheltes „Sie vielleicht.. sie hat mir die Haare geflochten, wie eine Mama.“
Fern des Armenviertel ahnt man nichts von diesen Worten als die elonischen Finger vorsichtig eine Tür mit opulenten Schnitzereien darauf öffnen und die junge Frau sich durch den wirklich nur schmal geöffneten Spalt presst. Die Empfangshalle ist nur spärlich beleuchtet und sie will eben jenes Bild nicht durch einen breiten Lichtstrahl der Laternen rechts und links der Türe ändern. Ja, sie wagt nicht einmal wirklich zu atmen als das Schloss leise klackend wieder seinen Halt findet. Die Augenlider fallen für einen Moment unter einem tiefen Atemzug, während der Rücken sich ans Holz drückt. Dann der nächsten Schritt nach vorn, wieder unter größtem nach außen getragenen Wunsch keine unnötige Aufmerksamkeit hervorzurufen. Nur noch ein paar Schritte, die Treppe herauf, dann links an zwei Türen vorbei und im rechten, sich abzweigenden Gang im eigenen Zimmer verschwinden. Der Weg ist klar vor Augen, das Licht im großen Herrenhaus, dank des Geizes, gerade einmal ausreichend um Teppichfalten und Stufen auszumachen. Jeder Schritt prescht in vielen Wiederholungen als Herzschlag gegen das Brustbein, jedes Knacken und Knarzen lässt das Preschen inne halten und die Sorge steigen, erwischt worden zu sein. Wie ist sie nur hierher geraten? An welchem Weg falsch abgebogen und hatte sie es sich so erdacht? Nur noch die Hand ausstrecken, den Türgriff nach unten drücken und hinein entschwinden, dann ist es überstanden.
„Wo kommst du her?“ ist das Erste, was sie vernimmt als sie tief und befreiend durchatmet und im eigenen Zimmer angekommen ist. Noch ist der Rücken dem Inneren zugedreht, noch hatte sie den mittig im Raum stehenden Stuhl nicht bemerkt, aber die Stimme ließ den vermeintlichen Triumph in kleine Scherben zerfallen. Die Kapuze herab wischend in der Drehung fixieren die Kohlenstücke den Mann im Polstermöbel, hastig hebt und senkt der eigene sich eben noch beruhigende Atem die Brust, die Miene zerbrechlich wie Glas und die Haltung rasch untergeben. „Ich war..“ ..einkaufen, ...unten, ..im Garten, floh es ihr durch die Gedanken, doch der Mund sprach möglichst unbeteiligt „...spazieren. Der Abend war so angenehm warm, wir haben ja beinahe einen elonischen Sommer, nicht? Nach all dem Regen endlich.“ und wie es von den Lippen fiel, hoben sich die Mundwinkel zu einem bestrickenden Lächeln. „Ihr solltet mich einmal beglei..“ weiter kommt sie nicht, da steht der Mann schon vor ihr, hat raumgreifende Schritte über den Boden gebracht, packt ihr ins Haar und besieht sie sich.„Lüg mich nicht an!“ zischt er ihr entgegen und drückt sie am eigenen Schopf halb seitlich herunter. „Ich treibe dir diese Lügen noch aus dem Leib, Miststück.“ ist das Nächste was ihr an die vor Schreck und Starre tauben Ohren rinnt, während er sie mit festen Schritten zum lodernden Kaminfeuer zieht und dort auf die Knie zwingt. Erst jetzt kommt ihr auf, dass es unnatürlich warm in diesem Zimmer ist, erst jetzt wundert sich der eben erschrockene Verstand über das knisternde und flackernde Feuer und erst jetzt wird ihr der Verlust gewahr. „Nein..Nein!“ entkommt ihr mit gebanntem Blick auf die vermeintlichen Holzscheite und obwohl seine Hand noch unerbittlich ihr Haar hält, sie hinsehen lässt, schüttelt sie den Kopf ein wenig. Was dort knisterte und lichterloh brannte war das Kostbarste in ihrem Leben und alles was sie in diese neue Welt mit sich genommen hatte. Etwas bricht und Funken stieben herauf, man sieht noch einen Teil des ehemaligen Namenszuges am Fuß des Instrumentes ~Manufaktur Visraven ~ samt dem dazugehörigen Wappen als Herkunftszeichen der Harfe gestempelt und eingebrannt, die nun nur noch Brennholz, nein vielmehr Kohle war und was ihr die Tränen in die Augen bringt. Der Schlag ins eigene Gesicht war gar nichts zum Schlag ins eigene Empfinden, in die Magengrube beim Anblick dessen, was ihr die Welt bedeutete und alles, was hernach noch in diesem Zimmer geschah, blieb in eben jenem und erreicht sie geistig kaum mehr.
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